Dyna vs. Softail: Wir haben den Factory-Chopper „Wide Glide“ mit dem Serien-Bobber „Slim“ verglichen. Was eint diese beiden Bikes, die längst aus Harleys Modellprogramm geflogen sind? 

Sie kommen aus demselben Stall, sie haben beide einen Twin Cam 103-Motor, und doch sind sie von ihrer Konzeption und der dahinter steckenden Philosophie her so verschieden. Die Dyna Wide Glide gab es – lediglich mit einer Unterbrechung in den Jahren 2008 und 2009 – schon seit dem Modelljahr 1980 im Portfolio der Company. Sie war bis zum Ende der Dyna-Ära 2017 der Langgabler unter den Serien-Harleys und verkörpert mit ihrem Erscheinungsbild den Spirit der Easy Rider-Ära, in der Hinterräder fett, Vorderräder dünn und hoch und die Gabel lang, breit und flach waren.

Dyna oder Softail, Chopper oder Bobber?

Die zum Modelljahr 2012 vorgestellte Softail Slim ist aus völlig anderem Holz geschnitzt. Sie zitiert in nahezu perfekter Manier all diejenigen Stilelemente, die die frühen Bobber ausgemacht haben: gedrungene Silhouette, vorne und hinten dicke Ballonreifen auf 16-zölligen Drahtspeichenrädern, ein satter Tank, knappe Fender, Hollywood-Lenker.

Dieses Foto gibt sehr gut Aufschluss darüber, um wieviel flacher das rechte Bike, die Softail Slim, gehalten ist

Passan­ten, die nicht so tief im Thema Harley-Davidson stecken, könnte man durchaus verklickern, die Slim wäre Ende der 50er Jahre vom Band gelaufen. Sie tat es jedoch sowohl zu Twin-Cam-Zeiten als auch noch in den ersten Jahren des Mailwaukee-Eight-Zeitalters. In diesem Test haben wir sondiert, für welche Fahrernatur welches der beiden Bikes  – ganz unabhängig von „Flame“-Lack oder Ballonreifen – die bessere Wahl ist.

Twin Cam gegen Twin Cam, Dyna gegen Softail

Zur besseren Vergleichbarkeit werden hier beide Modelle vom 103 Kubikinch großen Twin Cam befeuert. Gegen den 107er Milwaukee-Eight der Softails ab Baujahr 2018 macht der zwar keinen Stich, aber da es nie eine Wide Glide auf M8-Softail-Basis gab und der Battle mit ebenbürtiger Motorisierung vonstatten gehen sollte, heißt es hier also Twin Cam gegen Twin Cam, Dyna gegen Softail.

Die Dyna Wide Glide ist spürbar stärker …

Vergleicht man die reinen Papierdaten, so mag die geringe „Mehrleistung“ von einem PS beim 103er im Vergleich zum 96er Twin Cam-Aggregat zwar ernüchtern, jedoch hat das überhaupt nichts mit der verbesserten Performance auf der Straße zu tun. Der 103er Motor drückt in jeder Fahrsituation viel souveräner als der vorherige 96er aus den Ecken heraus und auch Überholvorgänge mit ellenlangen Wegen sind ab dieser Motorengeneration kein Thema mehr. Lücke sehen, Gas aufreißen, flugs vorbei … alles prima.

Der Twin Cam 103  ist in der Dyna klar besser als in der Softail

Und obwohl der Hubraum gegenüber dem TC 96 nicht durch Änderung des Hubs, sondern durch Aufbohren um 3,1 Millimeter erzielt wurde, toppt auch der Drehmomentverlauf des TC 103 den des kleineren Motors in allen Belangen. Da die Twin Cams seit der flächendeckenden Einführung der Kraftstoffeinspritzung sogar bei Passfahrten im Hochgebirge gute Manieren zeigen, bietet dieser Motor keinen Grund zur Klage. Zumindest in der Wide Glide …

… die Softail Slim handlicher

In der Softail-Variante fehlt es ihm allerdings ein wenig an Sprungkraft, an Spontaneität. Verantwortlich hierfür sind die beiden Ausgleichswellen, die ja nicht nur mehr Gewicht bedeuten, welches mitgeschleppt werden muss, diese beiden Wellen müssen schließlich auch – im Falle der Softails – über zwei Ketten angetrieben werden. Das kostet Kraft. Auch wenn Harley die Papierdaten des TC 103B (B für Balanced) denen der Motoren ohne Ausgleichswellen als gleich deklariert, im Fahrbetrieb wird man eines Besseren belehrt.

So richtig kernig ist der Sound trotz Klappenauspuff nicht

Dem „B“-Motor fehlen gut und gerne fünf PS im Vergleich zu den Motoren der Dyna-Baureihe, von den Touring-Modellen ganz zu schweigen. So gesehen geht die Motorenwertung in diesem Vergleich ganz klar an die Wide Glide. Beide Modelle waren in den Europa-Versionen mit dem bekannten aktiven Ansaug- und Auspuffsystem und einem ungeregelten Katalysator ausgerüstet. Zwar stellt dieses aktive Ansaug- und Auspuffsystem im Vergleich zu den Zeiten, als es dieses System noch nicht gab, eine gewisse Verbesserung hinsichtlich des Sounds dar, aber so richtig kernig ist das trotzdem alles nicht.

Den 103er Twin Cam gab es in der Wide Glide erst ab 2013

Dafür kann der Hersteller natürlich nichts. Der hatte und hat sich gefälligst an die gesetzlichen Vorgaben aus Brüssel zu halten. Unser aller Dank für den schwachen Serien-Sound gilt daher den spaßbefreiten Sesselfurzern in den EU-Parlamenten. Der kurzen Rede langer Sinn: Wer guten Sound an seiner Harley will, kommt um eine Auspuffanlage vom Zubehörmarkt nicht herum.

Die Dyna federt hinten in allen Belangen besser

Bei diesem Kapitel muss weiter ausgeholt werden. Zäumen wir das Pferd einmal von hinten auf: Die Wide Glide hat ein Fahrwerk mit konventioneller Schwinge, die sich ebenso konventionell über zwei sichtbare, hinten stehend angeschraubte Federbeine gegen das Rahmenheck abstützt. Bei der Softail Slim ist das völlig anders. Die dreieckig gestylte Schwinge soll dem flüchtigen Betrachter einen Starrrahmen vortäuschen, und damit die Illusion funktioniert, sind die beiden Federbeine unterm Getriebe versteckt.

Klassische Flames-Lackierung der Wide Glide. Das Modell dürfte die Company gerne als Softail-Version mit Milwaukee-Eight-V2 auflegen

Das heißt, Softails federn hinten auch, aber auf eine sehr überschaubare Art und Weise. Und obwohl der von Harley angegebene theoretische Federweg der Slim denjenigen der Wide Glide um 29 Millimeter übertrifft, federt die Dyna hinten in allen Belangen besser. Sie spricht fühlbar feiner an, Angst vor Kanaldeckeln sind bei ihr kein Thema. Was die Vorderradgabel angeht sind die beiden Kontrahen­ten pari, beide Gabel bieten ausreichend gutes Ansprechverhalten und genügend Federweg, solange man sich auf gut ausgebauten Straßen bewegt.

Die Wide Glide lenkt bei langsamer Fahrt etwas unwillig ein

Für das Fahrverhalten bedeutend schwer­wiegender als die Federelemente sind die anderen Fahrwerksparameter. Die Wide Glide und die Slim haben sowohl unterschiedliche Gabel- und Lenkkopfwinkel, einen unterschiedlichen Nachlauf, verschieden lange Radstände und auch völlig verschiedene Dimensionen bei den Rädern. Um die Sache hier abzukürzen: Der Autor dieser Zeilen ist ein bekennender Fan der Wide Glide. Dennoch lässt dieses Bike Zweifel daran aufkommen, dass in der vergleichsweise flach angestellten Gabel ein großes, schmales 21-Zoll-Rad sitzt.

Die ballonbereifte Slim war seinerzeit die zweitgünstigste Möglichkeit, eine Softail zu fahren

In der Verbindung mit dem satten Radstand von 1725 Millimetern lenkt die Wide Glide bei langsamer Fahrt etwas unwillig ein, verhält sich um den gereckten Lenkkopf herum viel steifer als die Konkurrentin Slim. Bei schnellerer Fahrt so ab 60 km/h wird’s angenehmer, dann verschwindet dieser Effekt fast völlig. Langsame Serpentinen fahren auf Mallorca macht aber auf der Slim viel mehr Spaß. In solchen Gefilden können die recht schmalen 16-Zöller ihre ganze Überlegenheit hinsichtlich quicken Handlings ausspielen. Etwas mehr Bodenfreiheit hätten wir uns bei der Twin-Cam-Slim trotzdem gewünscht. Die Trittbretter setzen einfach viel zu früh auf, was sich erst mit der M8-Slim deutlich besserte. Dennoch: Betrachtet man den reinen, ungezwungenen Fahrspaß, hat die Slim in der Fahrwerkswertung die Nase vorn.

Die Beißerchen sind bei Slim und Wide Glide so lala

Wie beim Kapitel Sound gibt es auch über die Bremsen nicht allzu viel zu berichten. Beide fahren mit je einer Scheibe vorne und hinten, wobei die Dyna vorne eine schwim­mend gelagerte Bremsscheibe mit 300 Millimetern Durchmesser hat, bei der Softail beißt der Vierkolben-Festsattel in eine starre Scheibe mit 292 Millimetern Durchmesser. Wirkliche Unterschiede konnten wir dabei nicht erfahren, beide Beißerchen sind so lala. Ohnehin empfiehlt es sich, bei beiden Motorrädern kräftig hinten zu bremsen und den vorderen Stopper nur zur Unterstützung hinzuzunehmen. Das Kapitel Bremsen werten wir als Gleichstand.

Das LCD-Fenster im Tacho zeigt jetzt auf Knopfdruck Gang, Drehzahl oder eine Restreichweitenanzeige

Zum Komfort: Die Wide Glide bietet den besseren Federungskomfort, der Fahrer sitzt auf der Slim dafür relaxter. Ihr breiter Lenker im lässigen „Holly­wood“-Stil passt ergonomisch perfekt zur Lage der Trittbretter; sowohl klein- wie großgewachsene Fahrer fühlen sich sofort auf ihr wohl. Auf der Wide Glide sitzt man durch die weit vorne montierten Rasten und den schmaleren Lenker eher chopperartig aufgespannt. Müssten wir 800 Kilometer Tagesetappe abreißen, wir würden in jedem Fall zur Slim greifen.

Was nicht dran ist, kann auch nicht kaputt gehen

Fazit: Ausstattungsmäßig geben sich beide Bikes fast nichts. Beide haben das Security-System mit Wegfahrsperre und eine Alarmanlage mit Keyless-Fernbedienung. Auch ABS, ein Mini-LCD-Drehzahlmesser und eine sehr genau anzeigende Restreichweitenanzeige ist bei beiden Modellen serienmäßig. Ansonsten frönen diese beiden Fahrmaschinen der sympathischen Devise: Was nicht dran ist, wiegt nichts und kann auch nicht kaputt gehen.

Testsieger? Ganz klar die Softail Slim. Aber erst die Nachfolgegeneration ab 2018

Fazit: Die Dyna Wide Glide gewinnt die Motorenwertung, weil sie im Stand mit ihrem ausgleichswellenlosen V2 einfach viel geiler vibriert und – viel wichtiger – bei Fahrt spürbar kräftiger und souveräner zur Sache geht. Die Fahrspaßwertung kann die Softail Slim für sich entscheiden, obwohl sie recht früh aufsetzt. Sie ist überragend handlich, benimmt sich neutral um den Lenkkopf herum und bietet eine locker relaxte Sitzhaltung. Bei den anderen Kapiteln herrscht Gleichstand; eine echte Siegerin gibt es also nicht. Beides sind ausgereifte, charismatische Motorräder mit hohem Kultpotenzial. Was sich auch an den satten Gebrauchtpreisen zeigt. Und da stellt sich schon die Frage, ob man nicht besser gleich zu einer gebrauchten Slim mit Milwaukee-Eight greifen soll. Die wäre hier jedenfalls klarer Sieger gewesen …