Ein Motorrad als Kunstobjekt? Wo anders findet man das heutzutage, wenn nicht in Italien? Das Magazine-Award-Bike von DREAM-MACHINES der Motor Bike Expo Verona ist viel zu schade für die Straße! Im Eigenbau-Starrrahmen glänzt ein originaler 1000er Harley-Davidson IOE V2 aus dem Jahr 1919.

Wenn es darum geht abgefahrene und exklusive Custombikes zu sehen, ist man Ende Januar in Verona an der richtigen Stelle. Bei der Motor Bike Expo gab es ein Motorrad, das aus den Reihen der großen Anzahl von Top-Bikes herausragte: „Legend“ von Gallery Motorcycles. Mirko Perugini heißt der Erbauer und seine Motorräder sind wahrlich bis ins letzte Detail ausgefeilte Kunstwerke. Zu welchen Leistungen Mirko fähig ist, zeigt er mit diesem Bike.

Die beiden 23-Zoll-Räder sind „made in Germany“, sie wurden von TTS auf Maß gefertigt

Diesem Einzelstück etwas entgegenzustellen ist beinahe unmöglich, denn fast jedes Detail ist Handarbeit oder Eigenbau – inklusive des Motors, der mehr oder weniger aus Altmetall wie Phönix aus der Asche stieg. Mirkos Atelier – Werkstatt wäre für die fast musealen Räume nicht der richtige Begriff – liegt in Rezzato, nicht ganz auf der Mitte zwischen Brescia und dem Gardasee. In den dortigen Regalen liegen Memorabilia und Teile aus fast allen Epochen der Motorradgeschichte, aber die V-Twins aus Milwaukee haben es ihm besonders angetan.

Harley-Davidson IOE Racer im Eigenbau-Starrrahmen

Ein kompromissloses Custombike im Stil alter Boardtrack-Racer zu bauen war schon immer sein Wunsch. Doch die Kundenaufträge ließen ihm nur wenig Zeit, um das angedachte Projekt auch in die Realität umzusetzen. Die Basis für sein Unterfangen lag schon seit einiger Zeit in einem seiner Regale: ein Harley-Davidson V-Twin aus dem Jahre 1919. Das Modell J war zu seiner Zeit ein bewährtes Alltagsmotorrad. Die Inlet-over-Exhaust-Ventilsteuerung war zwar schon damals etwas antiquiert, dafür aber etabliert und robust in der Wartung.

Die Hartlotnähte sind allesamt optischer Fake

Mirko Peruginis J-Motor stammt mit ziemlicher Sicherheit aus einer jener Militär-Harleys, wie sie vor allem auf den französisch-amerikanischen Schlachtfeldern 1918 und später bei der Besetzung von Deutschland gefahren wurden. Der IOE-Motor war in einem jämmerlichen Zustand. Er bildete nicht mehr als eine Grundlage für eine Komplettrestaurierung. Teile wurden gesucht, die vorhandenen Komponenten gesäubert und – so weit möglich – in Schuss gebracht oder nachgefertigt. Selbst die Kolben mussten nach Originalvorlagen neu angefertigt werden.

Schmierung mittels Handpumpe

Ventiltrieb-Komponenten und originale Schebler-Vergaser sind hochwertig vernickelt. Die Zylinder sind zur besseren Wärmeableitung mit schwarzem Schrumpflack überzogen. Die Motorenschmierung erfolgt nach alter Väter Sitte: mittels Handpumpe an der linken Tankseite. Mangels Originalteil baute Mirko seine eigene Version aus Aluminium mit verstärktem Ölfluss. Wer genau hinsieht, entdeckt die Motorentlüftung über dem vorderen Primärritzel, wo das überschüssige Öl zur Schmierung der Primärkette dient.

Originaler zeitgenössischer Schebler-Vergaser, hier per Drehteller angesteuert

Beim Fahrwerk ging Mirko in die Vollen: Der hintere Starrrahmen ist einem seiner früheren Extrem-Lowrider-Umbauten entlehnt und lässt an der oberen Seite genug Platz für die federnde Aufhängung der Sitzbank. Der Oberzug geht als klassischer Einrohrrahmen unter den Tank, wo er sich in zwei Rohre teilt, um Platz für die mittig angebrachte Handschaltung zu machen, und trifft wieder als solides Einzelrohr auf den Lenkkopf. Zwei Unterzüge führen vom Lenkkopf auf eine Verbindungsplatte, die fest mit zwei lasergeschnittenen halbmondförmigen Platten verschweißt ist. In denen ist das Triebwerk solide verklemmt.

Echte Boardtrack-Racer kannten übrigens weder Getriebe noch Kupplung

Der Primärantrieb des alten Dreiganggetriebes – die echten Boardtrack-Racer kannten übrigens weder Getriebe noch Kupplung (!) – erfolgt über eine Zwischenwelle und zwei Primärketten, von denen die vordere automatisch gespannt wird. Auch dem vernickelten Kupplungskorb ist sein Herstellungsdatum vor mehr als 100 Jahren unter der neuen Nickeloberfläche noch anzusehen.

Unfassbar: Gasbetätigung mittels Kardanwelle

Die pneumatische Einrohr-Vorderradgabel dürfte Fans der Italo-Customszene nicht neu sein. 2012 schockte Mirko Perugini die Konkurrenz mit seinem Bike „Tazio“ mit ähnlicher Gabel. Die Federung erfolgt pneumatisch im Innern des Druckzylinders, während die Hebelkonstruktion das in einer starren Schwingenkonstruktion geführte Vorderrad in der Spur hält. Die beiden 23-Zoll-Räder sind dabei der einzige Zukauf „made in Germany“, denn sie wurden vom norddeutschen Radspezialisten TTS auf Maß gefertigt.

Harley-Davidson IOE mit Dreigangschaltung

Der Oberhammer sind die unglaublichen mechanischen Konstruktionen von Schaltung und Gasgriff. Eine Reihe kardanischer Gelenke überträgt hierbei die Drehbewegung des Gasgriffs auf eine Seilrolle am Rahmen. Von dort aus geht es per Zug an den Schebler weiter, auf dem eine baugleiche Rolle mittels Rückstellfeder in Nulllage gehalten wird. Natürlich müssen die kardanischen Gelenke so ausgelegt sein, dass sie der Lenkerbewegung folgen können!

Die Motorenschmierung erfolgt nach alter Väter Sitte: mittels Handpumpe an der linken Tankseite

Und wer „Handshifter“ sagt, muss natürlich auch Fußkupplung meinen. Also konstruierte Mirko eine eigene, auf einer Rebuffini-Armatur aufgebaute Zugübersetzung, die – unter Primärantrieb und Rahmen durchgeführt – an einem Kupplungshebel endet. Nur teilweise sichtbar ist die nicht weniger komplexe Umlenkung der Dreigangschaltung. Komplettiert wird die Maschine durch die ausgefeilte Lackierung. Dadurch wirkt das Bike auf den ersten Blick wie ein rauer, ungeschliffener Oldschool-Racer.

Was aussieht wie Nähte aus Hartlot, ist ein Fake

Paolo Salvini von Spray Art zog hier alle Register: Das Olivgrün mit den handgezogenen Pinstripes ist eine Reminiszenz an Harleys Geschichte. Und weil es heller Wahnsinn wäre, solch ein Kunstwerk auf die Räder zu stellen und dann das blanke Metall, nur durch eine dünne Klarlackschicht geschützt, der Korrosion auszusetzen, ersannen Mirko und Paolo eine ziemlich smarte Lösung: gebürsteten Lack! Rahmen, Gabel, Fender, Tank und die dazu gehörenden Unterbaugruppen sind grau lackiert, in der Optik wie Stahl wirkend – und zur Steigerung des Effekts dann zusätzlich „gebürstet“.

Gebürsteter Lack erzeugt die Illusion von blankem Metall

Danach kam Klarlack drauf. Ein weitere Arbeitsgang verstärkt die optische Illusion: Was aussieht wie Nähte aus Hartlot, ist ein Fake. Die in Wahrheit hochmodernen Stahlschweißnähte sind mit hartlotähnlicher Farbe überpinselt worden. Dies ist aber so perfekt „unregelmäßig“ gemacht, dass man schon wirklich genau hinsehen muss, um die Täuschung zu erkennen. Sei’s drum: Das Gesamtergebnis zählt, und da dürfen einen vermeintliche Hartlotnähte auch mal ein wenig aufs Glatteis führen.

Info | gallery-motorcycles.com