essernDie Harley-Davidson Low Rider ST ist ein rollendes Zitat der FXRT Sport Glide. Wir haben die beiden gegeneinander antreten lassen.

Lasst uns Äpfel mit Birnen vergleichen! Das dürfen wir, weil wir uns in den Zeiten des Crossover-Stylings sowieso nicht mehr in sauber abgegrenzten Kategorien bewegen. Was also ist die Low Rider ST denn nun wirklich: Ein Tourer? Ein Bagger? Ein Clubstyler? Womöglich ein aus der Form geratener Racer?

Die Low Rider ST zitiert die FXRT aus den Achtzigern

Sie ist von allem etwas, irgendwie ist sie aber auch von allem nichts wirklich, denn obendrein hat sie für alles den falschen Rahmen. Und doch geht die Rechnung auf, weil sie das Zeug zum Kultmotorrad hat. Und das liegt daran, dass sie ein fast vergessenes Kultmotorrad zitiert. Deshalb wenden wir uns erst einmal der originalen FXRT aus den Achtziger Jahren zu.

Mit der „El Diablo“ reichte die Company 2022 eine aufgespeckte Version der Low Rider ST nach. Sie hat eine Musikanlage in der Verkleidung, ist technisch aber mit der Basisversion identisch

Als Harley-Davidson im Jahr 1984 das Modell FXRT Sport Glide auf den Markt brachte, wollte die Company unter den großen Herstellern aus Japan und den BMW-Boxern mitpinkeln. Die verkauften damals erfolgreich wuchtige Reisetourer mit ausladenden rahmenfesten Frontverkleidungen, denn das Fahrverhalten mit einer rahmenfesten Verkleidung ist solider als mit einer an die Gabel geschraubten Fairing im Stil der Electra Glide.

Die Sport Glide lief am Anfang noch mit Shovelhead vom Band

Ein verhältnismäßig gut laufendes Fahrwerk hatte die Company ja schon mit dem sportlichen FX-Rahmen. Eine rahmenfeste Verkleidung hatte sie auch. Sie entstammte dem vierzylindrigen Projekt „Nova“, das es nie zur Serienreife brachte. Deren Verkleidung schraubte man nun an die FX, erst motorisiert mit dem Shovel, dann mit dem Evo, der zumindest mit seiner Standfestigkeit das Zeug für einen seriösen Reisetourer mitbrachte. Und weil der Rahmen durchaus eine sportliche Fahrweise zuließ, gab Harley dem Kind nicht nur die üblichen kryptischen Buchstaben, sondern einen eingängigen Namen: Sport Glide.

Beide Maschinen sind handlich und wendig. Sie lieben sogar Schräglagen. Fußrastenkratzen? Kaum möglich!

Alles das passte nicht zusammen. Die Nova-Verkleidung blieb an einem Big Twin einfach nur eine irritierendes unförmige Geschwulst. Erst Jahrzehnte später wurde sie von Kennern wiederentdeckt, brachte es zum Kultwert und ist heutzutage im originalen Zustand kaum mehr zu bezahlen. Auch von den FXRTs sind kaum mehr originale Modelle aufzutreiben. Aber wozu brauchen wir eine originale, wenn die neue Low Rider ST mit ihrem hochgelegten Fahrwerk und ihren überlangen Risern nebenher auch noch den Clubstyle zitiert?

Auf der alten FXRT thronen wir in einer Sitzhöhe von 75 Zentimetern

Und um überhaupt alle Fragen zu beantworten, hilft nur Aufsteigen und Losfahren! Den nun schon mehrfach zitierten Clubstyle, so heißt es, hätten einst Rocker-Clubs erfunden, weil deren Chopper nicht schnell und wendig genug waren, um der Polizei zu entwischen. Deshalb kam für den Clubstyle nur der sportlich hochliegende FX-Rahmen infrage, gepaart mit einem hochliegenden, aber schmalen Lenker. Das wiederum hat Ralph beherzigt, der Spender unserer historischen Vergleichs-Sport-Glide, die er ebenfalls im Clubstyle modifiziert hat. Wir sind also durchaus berechtigt, beide Bikes aneinander zu messen.

Die Zwei-in-eins-Anlage der FXRT ist nicht serienmäßig, unterstreicht aber den Look eines „Sport“-Tourers

Tatsächlich sind beide Motorräder ausgesprochen hochbeinig. Auf der alten FXRT thronen wir gar in einer Sitzhöhe von 75 Zentimetern, also noch höher als auf der Low Rider ST mit ihren 72 Zentimetern. Beide haben auch ungewöhnlich hoch liegende Fußrasten. Ralph schwört natürlich auf seine Kombination, weil langbeinige Menschen die Gräten weniger zusammenfalten müssen.

Low Rider ST mit künstlichem FX-Feeling

Lasst es uns nochmal aussprechen, dass die Neue eigentlich in einem falschen Rahmen steckt. Aber weil Harley die Dyna-Reihe mit ihren Stereofederbeinen abgeschafft hat, müssen wir es uns auf der Zunge zergehen lassen, was sie dem Softail-Fahrwerk für die Low Rider ST angetan hat: Sie haben den Rahmen angehoben, mittels eines längeren Monoshocks um 19 Millimeter, um künstlich ein einigermaßen glaubwürdiges FX-Feeling aufkommen zu lassen.

Die übereinander liegenden Schalldämpfer der Low Rider ST nehmen Platz weg. Der rechte Koffer fällt deswegen kleiner aus

Der Start erfolgt in beiden Fällen per Knopfdruck. Die Alte wünscht sich eine gefüllte Schwimmerkammer und eine wohldosierte Stellung des Gasdrehgriffes, vor allem aber will ihr Triebwerk nach dem Zünden mit umso wohlerer Dosierung des Gasdrehgriffes am Leben erhalten werden. Die Neue macht es von alleine, nervt aber duch die erzwungene Denkpause zwischen „Zündung An“ und dem von Surren begleiteten Hochfahren der Einspritzung.

Der Milwaukee-Eight der Low Rider ST punktet mit Laufruhe

Doch dann poltern beide. Ihr Sound lässt keine Wünsche offen, die Alte klingt natürlich basslastiger und sehr viel satter. Dafür punktet der Milwaukee-Eight mit einer phänomenalen mechanischen Laufruhe. Mit hallendem, weil sorgfältig hineinkonstruiertem „Klonk“ nimmt die Neue den ersten Gang an. Achtet dabei mal auf den Kupplungszug: Ja, die neuen Harleys haben längst keine hydraulische Kupplung mehr. Es wird wieder mit klassischem Bowdenzug gekuppelt, und das ist im Handgelenk nicht mal zu spüren.

Luftversorgung – Gelegentlich muss mit Legenden auch mal aufgeräumt werden. Die merkwürdige Frontverkleidung mit ihren noch merkwürdigeren Lufteinlässen wird gerne mit der angeblichen Planung für eine Polizei-Version erklärt. Die beidseitigen Lufteinlässe wären angeblich Aussparungen gewesen, die man für den Einbau des Blaulichts vorgesehen hätte. Tatsächlich war die Verkleidung für das vierzylindrige Nova-Projekt vorgesehen. Dort standen die Lufteinlässe im Dienst des wassergekühlten Triebwerks. Dessen Kühler lag nämlich hinter den Zylindern und wurde durch lange Kanäle seitlich des Tanks mit frischer Luft von ganz vorne versorgt. An der FXRT hatten diese Lufteinlässe keine Funktion mehr, und nur deshalb steckte die Polizei auch wirklich ihre Blaulichter hinein. Die Verkleidung der Low Rider ST hat nun auch diese beiden Lufteinlässe und obendrein noch einen dritten über dem Scheinwerfer. Sie dienen nicht der Kühlung des Motors, sondern der des Fahrers

Schon während des Anfahrens tut sich im Vergleich ein merkwürdiges Phänomen auf: Obwohl beide Bikes fast gleich viel wiegen und die Alte sogar einen um wenige Millimeter längeren Radstand aufweist, wirkt ausgerechnet die Alte handlicher und weniger massiv als die Neue. Es könnte daran liegen, dass die Alte schlichtweg fragiler ist. Diese Fragilität offenbart sie während der Fahrt. Ab 80 Sachen kokettiert sie selbst während der Geradeausfahrt mit einem charmanten Schwänzeln ihres Fahrwerks. Und gebremst werden will sie vorausschauend. Eine Scheibe leistet eben doch weniger als zwei, und überhaupt dürfen wir da von einem 40 Jahre alten Fahrwerk nichts besseres erwarten.

Die Low Rider ST ist beim Rangieren ausgesprochen leicht zu händeln

Um so erstaunlicher, dass beide Maschinen sich ziemlich ähnlich in die Kurven wuchten. Aber was heißt „Wuchten“? Es ist ja das Bezeichnende beider Modelle, dass sie sich für einen Big Twin erstaunlich handlich und schräglagenfreundlich geben. Schleifende Fußrasten? In beiden Fällen nicht gerade einfach. Und die Low Rider ST ist selbst beim Rangieren ausgesprochen leicht zu händeln. Sie hat einen Wendekreis von gerade mal 4,80 Metern Durchmesser.

Die FXRT Sport Glide wurde von 1984 bis 1992 hergestellt. In Deutschland verkaufte sie sich nicht besonders gut, die Low Rider ST hingegen schon

Die Neue hat mit fast doppelt so viel PS, auch fast doppelt so viel Drehmoment und um ein Drittel mehr Hubraum natürlich mehr Tinte auf dem Füller. Das zeigt sich vor allem auf der Autobahn. Bis dahin ist das Leistungsminus aber kaum zu spüren, auch wenn sie objektiv selbst untenrum früher und vor allem gewaltiger kommt.

Die Low Rider ST ist ein Sparbrötchen unter den Tourern

Der Gebrauchswert der Low Rider ST ist definitiv höher. Selbst in den letzten Details, wie einer ausgefuchsten Technik, mit der die Koffer sich lässig vom Rahmen lösen lassen, ist sie besser, wenn nicht perfekt. Obendrein glänzt sie mit einer Vielzahl von per Knopfdruck abrufbaren Anzeigen und mit einem auf langen Strecken praktischen Tempomaten.

In den Achtzigern stellte man an die Instrumente noch keine hohen Ansprüche, aber Analoguhren sind einfach immer nett anzuschauen

Trotzdem bleibt sie ein Sparbrötchen unter den Tourern. Da hat sie nun so eine wuchtige Frontverkleidung, aber hochbezahlte Ingenieure haben es geschafft, echt nur Luftlöcher hineinzukonstruieren. Nirgendwo findet sich ein noch so kleines Ablagefach. Connectability hat sie nicht, aber immerhin einen USB-Anschlusses am Lenkkopf. Okay, Biker der alten Schule brauchen das sowieso nicht, und eigentlich sind wir ganz dankbar, wenn wir uns nicht mit vielfarbigen Displays und einer unendlichen Variation einstellbarer Fahrmodi herumplagen müssen.

Technisch unterscheidet sich die „El Diablo“ nicht von der Basis-ST

Erst mit der später nachgereichten „El Diablo“ füllt eine Musikanlage diese Verkleidung aus. Wir wussten doch, dass da noch Platz ist … Technisch aber unterscheidet sich darüber hinaus nichts von der Basis-ST, die El Diablo ist obenrum eben einfach nur noch ein bisschen schwerer. Der Neuen fehlt damit nach wie vor eines: Es ist die Sinnlichkeit des Harley-Triebwerks. Der Milwaukee-Eight der Low Rider ST hat zwei Ausgleichswellen und ist fest mit dem Rahmen verschraubt. Die Company rühmt sich, die Vibrationen des Milwaukee-Eight nicht bis aufs Letzte gekillt zu haben, auch die Low Rider ST ist in ihrem Motorlauf als Harley noch zu spüren.

Die moderne Digital-Instrumentierung im Mäusekino-Format kann mehr, als man denkt. Über die Menu-Taste am linken Lenker lassen sich auf dem Display wichtige und auch ein paar unwichtige Daten abrufen

Um so erschreckender, wenn die Low Rider ST an heißen Tagen an der Ampel auf Einzylinder-Betrieb umschaltet. Da erstirbt das Potato-Feeling völlig und der große Big Twin hämmert unter auf 950 Umdrehungen erhöhten Drehzahlen mit nur noch dem vorderen Topf, um den hinteren Zylinder einen vorzeitigen Hitzetod zu ersparen. Der Trick an der Sache: Wenn gerade jemand auf der Nebenspur zuhört, lässt die Low Rider ST sich mit einem Zurückdrehen des Gasgriffs auf Anschlag innerhalb weniger Sekunden wieder auf einen zwangsweisen Zweizylinder-Betrieb zurückstellen, das dann mit 850 Umdrehungen pro Minute im vertrauten Sound einer echten Harley.

Der Evo-Motor steckt gummigelagert, aber ohne Ausgleichswelle im Rahmen

Hätte man sich solche Gadgets zur Erlangung einer künstlichen Authentizität in den Achtziger Jahren vorstellen können? Man hätte es nicht gekonnt und nicht gewollt, denn damals war ja alles authentisch. So erzählt man es jedenfalls heute, und wir wollen die Alten nicht schon wieder darüber belehren, wie sie den Evo einst niedergeschrien hatten, weil der kein authentischer Harley-Motor mehr gewesen sei.

Beide Modelle sind Hochbeinig und haben ausgesprochen hoch liegende Fußrasten

So gibt die alte Sport Glide uns das, was wir an einer Harley schon immer am besten fanden: Die Vibrationen! Ihr Motor steckt gummigelagert, aber ohne Ausgleichswelle im Rahmen. Das ist allein schon beim Zugucken ein ganz großes Schauspiel. Und die Gummilagerung vermochte es nie, das ganze Motorrad still zu halten. Reifenabrieb im Stand, das kann nur eine alte Harley bis zu dieser Generation.

Kilometerfressern empfehlen wir dann doch die Neue

Wer nur bis zum Eiscafe fährt, der also sollte die alte FXRT nehmen und damit große Sprüche über den Unterschied von wahrer und echter Authentizität klopfen. Wer wirklich Kilometer abreißt, dem empfehlen wir dann doch die Neue. Wir haben es nämlich probiert, mehr darüber in einer späteren Ausgabe. Deshalb frei nach Bob Dylan: Die Zeiten, sie, äh, ändern sich. Wir können heutzutage gar nichts anderes mehr, wir müssen Äpfel mit Birnen vergleichen, und die Birne hat gewonnen.