Vor 12 Jahren kam die Victory Judge auf den Markt. Wer einen gebrauchten Powercruiser mit fettem V2 und quickem Handling sucht, sollte sich das Modell mal näher anschauen.

„Machen wir uns nichts vor! Die Judge ist kein Sportmotorrad und soll es auch nicht sein“, so die damalige Aussage von Victory Deutschland-Frontmann Torsten Zimmer. Victory sah seine Kundschaft eher bei Fahrern, die zwar weg von den heutigen PS-Monstern, jedoch auf Power nicht verzichten wollen.

Victory Judge mit 1730er 50-Grad-V2

Wer das neudeutsche Wort „Power“ mit Kraft übersetzt, liegt mit der Judge goldrichtig. Der bereits aus diversen Schwestermodellen bekannte 50-Grad-V2 gilt nicht nur als zuverlässig, er holt aus seinen 1731 ccm Hubraum serienmäßig auch gute 90 PS und – viel wichtiger – satte 153 Nm Drehmoment. Bummelfahrt erlaubt der mächtige V2 bis in tiefste Drehzahlregionen um 1.300 U/min.

Mit der Judge erweitert Victory seine ­Palette um ein interessantes Modell

Schon bei unglaublich niedrigen 1.400 Umdrehungen wird die 100 Nm-Grenze geknackt, mehr, als so mancher 1000 ccm Hypersportler überhaupt zusammenbringt. Bei 1600 Umdrehungen kommt echtes Leben in die Bude und bei 1.800 legt der V2 richtig los, selbst im sechsten Gang, der als Overdrive ausgelegt ist. Zwischen 2.000 und 2.200 Umdrehungen fühlt sich der Dickhuber pudelwohl.

Die serienmäßige Auspuffanlage klingt ziemlich kläglich

Bei 2600 erklimmt der „Freedom“ getaufte Motor schließlich seine Drehmomentspitze von 153 Nm und hält dieses Top in einem Tableau bis 3.600. Die Spitzenleistung von 90 PS liegt bei 4.400 U/min an, so hoch wird in der Praxis aber wohl kaum öfter gedreht werden. Fulminanter Schub in und aus allen Drehzahllagen ist also garantiert. Die serienmäßige Auspuffanlage klingt erwartungsgemäß ziemlich kläglich, die EU-Bürokratie lässt grüßen.

Der 1731 ccm-Motor bietet sattes Drehmoment schon bei niedrigsten Drehzahlen

Bloß komisch, dass es dem italienischen Hersteller Ducati bis in diese Tage gelingt, EU-Homologationen für Neufahrzeuge zu erwirken, deren „legaler Sound“ jenseits von Gut und Böse ist; wenn zwei das Gleiche tun, ist es ganz offensichtlich immer noch längst nicht das Gleiche. Fest steht: Um das Motorrad genießen zu können, braucht die „Judge“ einen anderen Auspuff. Den gibt’s von Jekill & Hyde, Miller und anderen und ist bei den meisten Gebrauchtbikes bereits montiert. Die serienmäßige Sechsgang-Schaltbox arbeitet unauffällig und präzise. Der Schaltschlag in den ersten Gang und vom ersten in den zweiten Gang ist wahrnehmbar, fällt aber nicht weiter unangenehm auf, die Bedienkräfte halten sich in überschaubaren Grenzen.

Die Victory Judge gibt sich überraschend handlich

Die Übersetzungsstufen sind nahezu perfekt gewählt, in jedem Gang hat man – natürlich auch aufgrund des immensen Drehmoments – drehzahlmäßig perfekten Anschluss. Anders als bei den Touring-Modellen von Victory besteht der Rahmen nicht aus Leichtmetall-Komponenten, sondern aus Stahlrohr. Die Konstruktion, in die der Motor fest verschraubt ist, geriet äußerst stabil, zusammen mit den Federelementen (vorne konventionelle Telegabel, hinten gegossene Leichtmetall-Kastenprofilschwinge an Mono-Gasdruckfederbein) gab sich die Judge auch auf hurtig genommenen schlechten Straßenpassagen gänzlich unproblematisch. Ein ganz großer Pluspunkt ist die Handlichkeit des trocken immerhin 300 Kilo schweren US-Geräts.

Handlichkeit durch schmale 16 16 Zoll-bereifung

Für heutige Zeiten ungewohnt schmal bereift, tragen die dünnen 16-Zoll-Reifen (vo. 130/90-16, hi. 140/90-16) ganz offensichtlich und entscheidend zur überragenden Handlichkeit des Bikes bei. Kurvenwedeln ist mit der Judge ein Genuss, in Kombination mit diesem druckvollen Motor wird so mancher Supersportler auf Alpenstraßen von hinten ganz plötzlich sein „Nuclear Sunset Matt“-Wunder erleben. Die zwei Single-Bremsen sind gewiss keine Benchmarks der Zweiradzunft, die schwimmend gelagerten Scheiben und die verbauten Nissin-Zangen erwiesen sich aber bei ambitioniert vorgetragenen Passabfahrten resistent gegen Fading und wurden ihrer Aufgabe stets voll gerecht. Der ein oder andere Fahrer hätte sich dennoch eine zweite Scheibe am Vorderrad gewünscht …

Unentschlossener Mix aus Cruiser und Naked Bike

Die Sitzhöhe ist mit 658 Millimetern für kleinere Menschen erfreulich niedrig, passt aber auch für Großgewachsene. Das Haar in der sonst wohlschmeckenden Suppe: Die Sitzposition ist ein etwas unentschlossener Mix aus Cruiser und Naked Bike und die „mittig“ montierten Fußrasten setzen recht früh auf, sie könnten nach unserem Geschmack durchaus noch fünf bis zehn Zentimeter weiter nach hinten und ein paar Zentimeter nach oben positioniert sein.

Der geräumige, gut ausgeformte Fahrersitz bietet dem Piloten sehr guten Halt, auf das Alibi-Brötchen für den Passagier steigt diese(r) höchstens für die 300 Meter zur Eisdiele

Für Fahrer, die gerne reisen, bot Victory als Originalzubehör eine bequeme Touring-Sitzbank, ein Windschild und Packtaschen an. Für die eher Cruiserorientierte Fraktion gab es zwei verschiedene Pullback-Lenker, die die Sitzposition entspannter machen.

Die Judge wirkt auch 12 Jahre nach ihrem Debut noch eigenständig

Ohne Zweifel ist die „Judge“ anders. Wohltuend anders, wie wir meinen. Victory hatte es am Ende verstanden, das Design seiner Motorräder komplett abzuheben von der großen Marke aus Milwaukee. Die Konzepte sind sicherlich ähnlich, die Ergebnisse aber nicht. Auch die Judge war keine Kopie von irgendeinem Konkurrenzmodell auf dem Weltmarkt, sie wirkt auch 12 Jahre nach ihrem Debut noch eigenständig. Besonders auffällig ist der Schnitt der Sitze und die Heckpartie. Die Heckfender haben eine sehr technoide maskuline Anmutung, dafür kommt das winkelförmige LED-Rücklicht umso abgefahrener daher.

Im maskulin geformten Heckfender sitzt ein auffällig gestyltes Rücklicht

Mit den ovalen, tonnenartig ausgeformten Seitendeckeln werden Startnummerntafeln zitiert und die fünfstrahligen Gussfelgen mit Pontiac GTO-Design erinnern unmittelbar an die gute alte Zeit der US-Muscle Cars der 60er und 70er Jahre. Da dürfen natürlich fette, weit und dreidimensional aus den Reifenflanken herauswachsende, weiß lackierte Marken- und Typenlabels nicht fehlen. Und erstmals konnten sich die Jungs aus Minnesota dazu durchringen, einen Rundscheinwerfer zu verbauen. Und der ist in seiner massiven, kompakt knuffigen Art (Gehäuse und Ring aus Metall!) optisch sogar sehr gelungen.

Fazit

Die „Judge“ ist mit ihrem eigenständigen, sehr maskulinen Auftritt eine erfrischende Alternative für Menschen, die auf zwei Rädern niemandem mehr etwas beweisen müssen, aber dennoch stilvoll und mit ungeheurem V2-Bumms und Gänsehaut-Sound unterwegs sein wollen. Wenn’s denn sein muss, darf es auch ruhig etwas zügiger sein, das kann das US-Eisen ab. Wertstabil ist es obendrein: Der damalige Neupreis lag bei 14.490 Euro, gebraucht geht’s bei knapp 8.000 Euro los. Das Gros der angebotenen Modelle liegt aber jenseits der 10.000 Euro.