Reiselustig? Sportlich? Mit der Harley-Davidson Street Glide ST geht beides, das liegt am sagenhaften Motor.

Beginnen wir mit den Sparmaßnahmen: Seit 2022 haben die Milwaukee-Eights keine hydraulische Kupplungsbetätigung mehr. Das hat wahrscheinlich kaum jemand gemerkt, weil die Bowdenzug-Kupplungen genauso leicht zu händeln sind. Obendrein sind damit die bekannten Probleme mit der Hydraulik Geschichte. Und diese Sparmaßnahme dürfte sich auch beim Kunden niederschlagen, womöglich schon bei der nächsten Wartung …

Harley-Davidson Street Glide ST – Steht für „Sport“ und „Touring“

Lästig aber ist die fehlende Schaltwippe der Street Glide ST. Wenn jemand vom Marketing nun sagt, das wäre der Sportlichkeit geschuldet, dann vermerken wir: Die ganz klar unsportlichere Street Glide Special mit ihren nach unten kragenden Koffern hat die Schaltwippe auch nicht. Aber fragen wir mal nicht weiter nach der Logik, wenn es um eine Harley geht. Die Buchstaben der Street Glide ST sollen jedenfalls für „Sport“ und „Touring“ stehen, und tatsächlich geht mit ihr beides.

Die dicht anliegenden Koffer machen einen schlanken Fuß

Soviel auf die Schnelle, und damit sind wir schon bei der Sache: Der 117-Kubik­inch-Motor ist eine Wuchtbrumme, ab 2000 Umdrehungen geht der Spaß so richtig los. Dann könnt ihr den Hahn aufreißen, und der Motor drückt euch einfach nur mit Verve nach vorne. Nach vorne, nach vorne, nach vorne, bis ihr plötzlich bei 190 Sachen seid und die Elektronik abregelt. Schade, es hätte noch ein bisschen mehr sein können. Es liegen jedenfalls genug Reserven im Keller.

Wir reden nicht von Logik, sondern von Gefühl

Hubraum ist nach belegter Männerweisheit eben nur durch Hubraum zu ersetzen. Im Fall der Street Glide ST sind das im Unterschied zur normalen Street Glide 55 Kubikzentimeter, also eigentlich nur zweieinhalb Schnapsgläschen. Der 114er Motor der regulären Street Glide wurde für die 117er-Version lediglich um anderthalb Millimeter aufgebohrt.

Das Assistenzsystempaket Reflex Defensive Rider Systems (RDRS) passt die Beschleunigungs- und Verzögerungskräfte sowohl an die verfügbare Reifenhaftung an. Die darin enthaltenen Assistenzsysteme werden elektronisch gesteuert. Ihre Eingriffe sind im normalen Fahrbetrieb nicht wahrnehmbar, erweisen sich jedoch bei schwierigen Straßenverhältnissen und in Gefahrensituationen als hilfreich

Hinzu kommt noch eine andere Auspuffführung im Vergleich zur Low Rider ST mit ebenfalls 117 Kubikinches. Die Street Glide aber hat zwei großvolumige Endtüten, die weniger sexy sind, aber wegen ihres Resonanzkörpers für eine ausgeglichenere Motorcharakteristik ­sorgen. Harley spricht gar von gewonnenen Pferdchen und Newtonmetern, die sich in den offiziellen technischen Tabellen aber nicht niederschlagen. Egal, wir reden ja nicht von der Logik, sondern vom Gefühl, und das ist mit dem 117er hinreichend saturiert.

Harley-Davidson Street Glide ST – Kein Schleifen mehr

Gleiches gilt für das Fahrwerk, das längst nicht mehr an seine Grenzen zu bringen ist. Wir schafften es kaum, die Fußrasten auf der am Wochenende für Motorradfahrer gesperrten Selbstmörderstrecke am Elmsteiner Tal zum Schleifen zu bringen. Die Kofferböden schliffen sowieso nicht, die Koffer sind ja auch nicht mehr die überkragenden Koffer der Bagger-Version, es sind vielmehr die Koffer der Normal-Version der Street Glide, die bei uns seit Jahren nicht mehr angeboten wird.

Die Koffer lassen sich mit leicht zugänglichen Hebeln aus dem Sattel heraus öffnen. An der Ampel ist das praktisch

Und damit sind wir schon bei der Reisetauglichkeit. Die Koffer der Street Glide Special kragen nicht nur nach hinten hin über die Schalldämpfer, sie bieten auch mehr Stauraum. Tatsächlich sind es sieben Liter mehr Volumen. Aber auch die Street Glide ST verfügt immer noch über 64 Liter Stauraum, genug für das Kilometerabreißen mit Hotel-Übernachtung am Wochenende. Wer von uns heutzutage noch ein Zelt und Isomatten mitschleppen will, der ist entweder in der falschen Zeitschleife gefangen oder er muss sich eben doch besser eine Electra Glide kaufen, die hat dann auch eine Schaltwippe.

Die Zeit zum Kennenlernen ist gut investiert!

Das Touring-Paket in der Fairing ist von der Dimension der ganz Großen. Ein 165 Millimeter breiter Bildschirm mit Touchscreen informiert über alles, was man heutzutage so unter „Infotainment“ verbucht. Das ist auch groß genug für altersfehlsichtige Biker unserer Generation, und vor allem an das Navi konnten wir uns verteufelt schnell gewöhnen. Vier Lautsprecher mit 25 Watt pro Kanal scheppern uns völlig ungefragt mit Wolfgang Petry zu. Das macht die Street Glide ST zur rollenden Rummelbude, und eigentlich gehört sich das nicht für Harley-Fahrer.

Für den richtigen Musiksound sorgen 5,25 Zoll Lautsprecher

Das Tückische an dieser Anlage: War sie erst mal in Betrieb, mussten wir lange durch die Menus joggen, um den „Aus“-Knopf zu finden. Wir haben ihn nicht direkt gefunden und drückten stattdessen schnell die „Mute-Taste“ auf dem Touchscreen. Das verschafft kurzfristig Linderung, nur hatte das Infotainment unsere Informationsmüdigkeit beim nächsten Anlassen vergessen, und schon schepperte Wolle wieder los und musste erneut gemuted werden. Klare Sache: Wenn einen solch ein Infotainment-System begleitet, sollte man es auch bedienen können. Die Zeit zum Kennenlernen ist gut investiert!

An die Verwirbelungen hinter der Fairing gewöhnten wir uns nicht

In dieser Fairing ist so viel los, dass wir uns gar nicht von ihr lösen konnten. Auf das Konto dieses wuchtigen Teils gehen wohl einige der 50 Kilo Mehrgewicht im Vergleich zur Low Rider ST. Und weil die im Bagger-Style auch noch ziemlich hoch montiert sind, wurde jedes Wende- und Schiebemanöver zur Tortur. Ein Lenkeinschlag folgt hier den Gesetzen der Massenträgheit: Einmal angehebelt, und das notgedrungen mit mächtig Schwung, ist die Bewegung des Lenkers kaum mehr zu bremsen, geschweige denn zu dosieren.

Der 370-Kilo-Brocken ist überaus komfortabel und lässt sich bei Bedarf doch erstaunlich sportlich über Landstraßen prügeln

Okay, daran könnten wir uns vielleicht gewöhnen. An die Verwirbelungen hinter der Fairing ab 120 km/h gewöhnten wir uns nicht. Mit denen müssen wir uns wohl abfinden, solange es Harley-Davidson gibt. Es ist alles ein bisschen besser geworden mit der Street Glide ST. Die Verwirbelungen hinter der Fairing einer alten E-Glide waren früher noch schlimmer. Und deren Koffer ließen sich auch nicht mal eben so im Stand an der Ampel öffnen, um die Handschuhe rauszufischen.

Harley-Davidson Street Glide ST– Alles ein bisschen besser

Harley-­Motoren konnten schon immer tief aus dem Keller kommen, der 117-cui-Motor aber kann es noch tiefer. Höher drehen kann er obendrein. Und für eine Schaltwippe gibt es den Harley-Dealer. Was ihr an Wartungskosten für die hydraulische Kupplung gespart habt, dass könnt ihr nun in eine Schaltwippe investieren – oder einfach sportlich weiterfahren.