Beinahe wäre die quer durch Amerika verlaufende Route 66 völlig verschwunden. Nach dem Bau der Interstate 40 und der „Decertification“ 1985 hörte die „Mother Road“ auf, offiziell zu existieren. Doch Angel Delgadillo, der berühmte Barbier aus dem 500-Seelen-Kaff Seligman, hauchte der geschichtsträchtigen „Sixty-Six“ neues Leben ein.

Wir haben diese lebende Legende besucht und trafen etliche weitere Menschen an der Route 66, die sich für den Erhalt und die Steigerung der Attraktivität „ihrer“ Straße engagieren – und die oft genug die bescheidene Lebensgrundlage für diese Menschen bildet. Mit „Red Rosie“ unterwegs zwischen Oatman und Holbrook, Arizona.

Unglaublichen Wiedergeburt der todgeweihten Route 66

Wer den kleinen Barber Shop von Angel Delgadillo im kleinen Städtchen Seligman in Arizona an der legendären Route 66 betrat, wollte sich nicht unbedingt rasieren lassen. Die Besucher wollten vielmehr einer lebenden Legende persönlich begegnen, ihr die Hand schütteln – und die Geschichte von der unglaublichen Wiedergeburt der todgeweihten Route 66 hören.

Barbier Angel Delgadillo ist Mitbegründer der Historic Route 66 Association of Arizona, die sich um den Erhalt und die Pflege der noch bestehenden Streckenabschnitte bemüht

Gut, dass wir uns vorher telefonisch bei Delgadillo angemeldet hatten. „Vor etlichen Jahren habe ich mich in den Teil-Ruhestand begeben“, sagte der Alte, mit blitzenden Augen hinter dicker Brille und einem spitzbübischen Lächeln auf den dünnen Lippen. Das meint: Nur noch „gute Kunden“ werden bedient, und auch mehr „just for fun“, um nicht aus der Übung zu kommen. Das ging bis Juli 2022, als sich der damals 95jährige endgültig in den Ruhestand begab.

Eine erstaunliche Anhäufung von Kitsch

Um seinen Broterwerb muss sich Angel, wie ihn hier alle nennen, natürlich längst nicht mehr kümmern. Eigentlich schon seit 1987 nicht mehr, als er im selben Häuschen, in dem sein Barber Shop untergebracht ist, zusammen mit seiner Frau Vilma sein „Visitors Center“, gleichzeitig Laden für „Memorabilia and Route 66-Gifts“, aufgemacht hat. Es gibt kaum jemanden, der das kleine Örtchen Seligman an der Route 66 im Westen Arizonas besucht hat, der nicht diese erstaunliche Anhäufung von Kitsch bewundert und selbst auch einen Teil davon käuflich erworben hätte.

Der Mythos Route 66 lebt inzwischen wieder. Neben Amerikanern setzen sich nun auch Europäer für die Erhaltung der Straße ein

Peter, der mit uns auf seiner Victory unterwegs war, benötigte dringend eine Rasur. Er machte sich auf dem alten Friseurstuhl aus den Sechzigern lang. Angel tauschte seine Cap gegen eine oben offene Kopfbedeckung mit einem grünlich schimmernden, transparenten Sonnenschirm. Er band am Rücken seine alte, aber frisch gewaschene graue Schürze zu und knöpfte diese vorn in Höhe seiner Brust an seinem gebügelten Route-66-Hawaii-Hemd fest. Dann ging es los. Ob es das erste Mal sei, dass er sich richtig rasieren lasse“, wollte Angel von Peter wissen. „Ja“, gab dieser kleinlaut zu. „Bei mir ist es auch das erste Mal … dass ich jemanden rasiere“, kicherte der Alte, und bedeckte Peters Gesicht mit einem feuchten Tuch. Mit einem elektrisch betriebenen, geradezu antik anmutenden Bartstutzer wurden erst die längeren Haare entfernt, bevor es richtig zur Sache ging.

Auf dem rechten Auge blind – und links ein Glasauge

Wenn das mal gut geht! Der Barber setzte sein Messer an und Zug um Zug glättete und entspannte sich Peters Gesicht. Zum Schluss gab es noch eine Gesichtsmassage mit einer gelblichen Creme. Eine letzte Qualitätskontrolle: „Da ist noch ein Härchen! Wie konnte das passieren?“, fragte der Alte, und erklärte entschuldigend, dass er auf dem rechten Auge eigentlich blind sei – und links ein Glasauge habe. Wir schauten den Alten einen Augenblick lang ungläubig an – bis der nicht mehr an sich halten konnte und sich vor Lachen auf seine knochigen Schenkel schlug. Keine Frage, Angel war immer noch gut drauf und jederzeit für einen Spaß zu haben. Das war nicht immer so. „Als die neue Interstate 40 eröffnet wurde, war es von einem auf den anderen Tag totenstill im Ort“, erinnerte er sich.

Die originalen Reste gelten inzwischen als Historic Route

Das sei genau am 22. September 1978 um 14 Uhr gewesen. Delgadillo war gerade 51 Jahre alt. Niemand sei mehr nach Seligman gekommen, um sich von ihm die Haare schneiden oder den Bart stutzen zu lassen. Das war ein sehr, sehr trauriger Tag. Er suchte sich ein paar Mitstreiter – und kämpfte um den Erhalt des kläglichen Restes „seiner“ Straße – mit Erfolg. Seine von ihm mitbegründete „Historic Route 66 Association of Arizona“ rettete schließlich die „Mutter aller Straßen“. Berühmtheit erlangte sie durch die Flucht vieler Familien vor den „Dust Bowls“ zu Zeiten der Großen Depression.

Symbol of the last good time America ever had

Busse halten nun wieder im Halbstundentakt in Seligman, zumindest in der Saison. Sie speien Deutsche, Japaner – und zunehmend auch wieder Amerikaner aus. Wie sagte Steve Nycz, Naturpark-Ranger im Walnut Canyon gleich östlich Flagstaffs und an der alten Route 66 gelegen, so treffend: „Von einhundert Besuchern, die auf der historischen Mother Road unterwegs sind, kommen neunundneunzig Prozent nicht aus Amerika.“ Das müsse, und das werde sich zukünftig ändern, hofft Nycz. Denn auch immer mehr US-Bürger müssten endlich begreifen, welche immense Bedeutung diese alte Straße für ihre ureigene, die Geschichte Amerikas, habe.

Die Route 66 gilt inzwischen als Mutter aller Straßen

Doch auch mit über 90 Jahren wird Delgadillo des Kämpfens nicht müde. Geduldig lässt er sich von Touristen ablichten, lächelt artig und hat für jeden ein paar freundliche Worte. Unermüdlich erzählt er jedem, der es hören will, die Geschichte des „Symbol of the last good time America ever had“. Und das ist der andere, zweite Grund, warum Peter, mein Begleiter, Angel einen Besuch abstattete: Peter (der für die Rasur 15 Dollars berappen musste), vermietet Bikes im 80 Meilen entfernten Flagstaff.

Gründung der European Route 66 Society

Die meisten der Biker, die nach Seligman kommen, sind auf einem seiner Motorräder unterwegs. Zusammen mit Angel unterzeichnete Peter feierlich die Gründungsurkunde für die „European Route 66 Society“. „Die Society wird ihren Teil dazu beitragen, dass die Route 66 weiterlebt. Niemand kann sie mehr zerstören“, ist sich Angel Delgadillo sicher. Und: „Wir wollen die Mother Road auch in Europa noch bekannter machen“, ergänzt Peter.

Bei Peter und Michaela Fischer kann man in Flagstaff Motorräder mieten

Der Motorradvermieter aus Flagstaff kennt die Route 66 wie seine Westentasche. „Immer mehr Menschen verwirklichen sich ihren persönlichen Traum von Freiheit und fahren mit einem Bike die Historic Route 66 ab“, sagt der gebürtige Bonner. Seine Empfehlung: Mit dem Bike auf dem noch längsten erhaltenen alten Teilstück der Mother Road von Flagstaff nach Williams, auf der Crookton Road nach Seligman, Kingman und Oatman – und über die Black Mountains, „das sind 192 Kurven purer Fahrspaß und „Back-to-the-Sixties-Erlebnisse“ pur“.

Erst 1938 wurde die Asphaltierung der Route 66 vollendet

Ich befolge Peters Rat und befahre mit meiner Miet-Street-Glide, die ich auf den Namen „Red Rosie“ taufe, erst die legendäre Crookton Road, dann überwinde ich die Black Mountains zwischen Oatman und Kingman, und fahre anschließend fast die komplette Route 66 in dem tagsüber sommerlich warmen und nachts schon empfindlich kalten Arizona ab. Kein Wunder, es ist Oktober – vor zwei Tagen hat es in den Bergen von Flagstaff das erste Mal geschneit.

Besuch bei Mr. WLA, der in Flagstaff historische Bikes restauriert

Dafür ist es jetzt, nach der Saison, überall schön leer, ich kann abspannen und die legendäre Route in Seelenruhe genießen. In ihrem Gründungsjahr 1926 waren lediglich 800 Meilen asphaltiert; erst im Jahre 1938 wurde die Asphaltierung der Straße vollendet. Heute sind es nur noch etwa 200 Meilen, die davon im Original erhalten sind und – als „State Historic Route“, einer Art Denkmal – unter Schutz gestellt sind, Angel sei Dank. „Zunächst wurden lediglich Schilder aufgestellt, die Abschnitte der historischen Route 66 auswiesen“, erzählte uns Angel. So sollen Reisende auf sie aufmerksam gemacht werden. Schließlich habe die Regierung von Arizona von der Notwendigkeit der Instandsetzung der Straße überzeugt werden können – als ein zentrales Erbe der amerikanischen Geschichte.

Angel Delgadillo hat würdige Erben gefunden

Doch abseits von teilweise recht kitschiger Romantik und mitunter drohender Stagnation tut sich noch einiges mehr an der berühmten Straße, die einst auf 2.448 Meilen Chicago mit Santa Monica verband. Zwischen Holbrook im Osten und dem westlich an der Route gelegenen Oatman hat der alte Angel Delgadillo würdige Erben gefunden, die seine und ihre Sache mit viel Idealismus weiter vorantreiben. Neben Peter Fischer aus Flagstaff ist das vor allem Bob Hall, der Handelskammer-Chef und Visitor-Center-Leiter von Winslow.

Historic Route 66 Motel

Hall hat einen „Acht-Punkte-Plan“ zur Steigerung der Attraktivität des Ortes vorgelegt – und hat mit viel Elan und Geld begonnen, diesen erfolgreich umzusetzen. „Wir haben neue Schilder aufgestellt, um den Besuchern bewusst zu machen, dass sie sich auf der wichtigen und geschichtsträchtigen historischen Route 66 bewegen“, sagt der Mann, der die ehemalige Trading Post des kleinen Ortes zu einem ansehnlichen und informativen Besucherzentrum umbauen ließ – und damit das historische Gebäude vor dem Verfall rettete. „Wir ließen traditionelle Straßenlaternen anfertigen und aufstellen. Und wir haben die Straße glattschleifen lassen.“ Die habe vorher mehr einer Buckelpiste denn einer Fahrbahn geähnelt.

Originalverpackten Harley-Ersatzteile aus den frühen 50ern

Auch im gut 200 Meilen westlich gelegenen Kingman weht seit kurzem ein frischer Wind: In der alten Eisenbahner-Siedlung öffnete nach bewegter Vergangenheit und langem Leerstand das frisch sanierte und liebevoll eingerichtete „El Trovatore Motel“ mit 20 Themen-Zimmern im Stile der 50er und 60er Jahre. Auf die Häuserwände ist die mit 206 Fuß (knapp 63 Metern) angeblich „längste Route-66-Karte“ aufgemalt, Betreiber Sammy plant damit einen Eintrag ins Guinness-Buch der Rekorde. Außerdem möchte Sammy ein kleines Museum für alte Fahrzeuge eröffnen, die an der Route 66 unterwegs waren. Sein erstes Exponat soll eine alte Indian sein, träumt der aus Israel stammende Amerikaner.

Von 2.448 Meilen sind noch ca. 200 im Original erhalten

In Flagstaff in der Cottonwood Street kümmert sich „Mr. WLA“ Bill Buehler um die originale Restaurierung von alten, seitenventilgesteuerten Flathead-„Liberators“ aus den 40er Jahren. Wer sich von einer auf die Besucher ausgerichteten, funktionstüchtigen Kanone auf Bills Grundstück nicht abschrecken lässt, kann prima mit ihm fachsimpeln, ihm bei der Arbeit über die Schulter schauen, eines der vielen originalverpackten Harley-Ersatzteile aus den frühen Fünfzigern kaufen oder eintauschen – und vielleicht sogar eines der immer rarer werdenden ehemaligen Army-Bikes bei ihm ordern, die zu Kriegszeiten auf der Route 66 Richtung Westen unterwegs waren – denn dort betrieb die Regierung kriegsrelevante Produktionsstätten und Militärbasen.

„Die Route 66 ist die Hauptwanderstraße“

Einer, der es schon 1939 begriffen hatte, war John Steinbeck. „Die Route 66 ist die Hauptwanderstraße“, schrieb der große amerikanische Schriftsteller in seinem bekanntesten Werk „The Grapes of Wrath“-„Route 66 – der lange Betonweg durch das Land, der auf der Karte in sanften Wellenlinien auf und ab fährt, vom Missi­ssippi nach Bakersfield – über das rote Land und über das graue Land, der sich hinaufschlängelt in die Berge, die Wetterscheide überquert, hinunterführt in das fruchtbare, leuchtende Ödland, über Ödland wieder in die Berge und dann in die reichen Täler Kaliforniens.“

Inzwischen ist die Route 66 eine Einnahmequelle für die Geschäfts-leute entlang der Strecke. Das Logo taucht immer wieder auf und wird gerne vermarktet

Er war es auch, der dieser Straße in seinem sozialkritischen Stück einen Namen gab: „Mutterstraße“, „Mother Road“. Dieser Name hat seither Geltung, und er hat auch heute wieder – dank einiger unermüdlicher, mutiger Streiter für den Erhalt der Reste der historischen Route 66 – einen nach Geschichte, Abenteuer und vor allem: nach grenzenloser Freiheit schmeckenden Klang.

Info | bikethebest.de