Bereits im Jahr 1914 fuhr Erwin Georg Baker auf einem motorisierten Zweirad in nur elf Tagen von der Ost- bis zur Westküste Amerikas. Später entwickelten sich aus dieser denkwürdigen Rekordfahrt die berühmt-berüchtigten Cannonball-Rennen. 2010 gab es das Comeback, erneut nahmen Zweiradler mit historischen Fahrzeugen die Strecke unter die Räder. Keines der Motorräder war jünger als Baujahr 1916. Gestartet wurde auf einem Atlantik-Pier in Kitty Hawk/North Carolina. Das Ziel war der Pier von Santa Monica in Kalifornien. Der Starfotograf Michael Lichter fuhr beim Motorcycle Cannonball mit und erzählt uns hier seine Eindrücke.
Im Dezember 2009 hörte ich von den Planungen zu diesem Rennen. Ich wurde eingeladen, dieses Ereignis fotografisch festzuhalten. Der Vater eines der Beteiligten, Carl Olsen, Knucklehead-Spezialist und Gründer von Carl’s Cycle Supply, wollte mich auf seiner 1953er Panhead als Beifahrer mitnehmen. Wir würden zwar nicht am Rennen selbst teilnehmen, aber es begleiten.
Die Bikes müssen mindestens 95 Jahre alt sein
Die Regeln für eine Teilnahme besagten, dass der Motor des eingesetzten Bikes original sein muss. Bei sicherheitsrelevanten Teilen wurden Modifikationen wie nachgerüstete Vorderbremsen oder modernere Reifen erlaubt. Der Hauptteil des Bikes sollte aber mindestens 95 Jahre oder älter sein. Eigentlich konnte ich mir gar nicht vorstellen, dass überhaupt jemand sein wohl behütetes Schätzchen solch einer Strapaze aussetzen würde. Doch schon bald hatten sich 68 Teilnehmer eingeschrieben und das Startgeld überwiesen.
Eingeteilt wurde das Feld in drei Klassen. In Klasse 1 starteten einzylindrige Bikes mit nur einem Gang, in Klasse 2 liefen mehrzylindrige Bikes, die auch nur über einen Gang verfügten und zur Klasse 3 zählten mehrzylindrige Vehikel mit mehrgängigen Schaltgetrieben. Am Tag der Wahrheit fanden sich dann am Start in Kitty Hawk 45 Fahrzeuge in unterschiedlichen Erhaltungszuständen ein, darunter bekannte Markennamen wie Harley-Davidson, Indian, Excelsior, BSA, JAP oder Flying Merkel. Aber auch unbekannte Modelle von Calthorpe, Premier, Pope, Sears oder eine französische vierzylindrige Militaire. Von diesem Hersteller gibt es in ganz Amerika nur drei Exemplare.
Tagesetappen zwischen 140 und 300 Meilen
Das Alter der Fahrer reichte übrigens vom 24-jährigen Matt Olsen bis zum 79 Jahre alten John Hollansworth. Auch die Erfahrungen im Umgang mit den historischen Pretiosen waren ganz unterschiedlich. Paul aus Kalifornien war bis dahin überhaupt nur weniger als 2000 Meilen Motorrad gefahren, fand das Rennen aber eine spaßige Sache. Teilnehmer Alan Travis hatte noch viel weniger Motorradkilometer im Hintern, aber das legendäre Rennen schon mehrfach in Autos bestritten und sogar schon gewonnen. Seine Zweiraderfahrung beschränkte sich bisher auf Fahrräder. Doch vor einigen Jahren hatte er einen Board Tracker von 1914 erworben, mit dem er nun die Strecke bewältigen wollte.
Die Tour begann am Pier von Kitty Hawk, wo sich alle Teilnehmer für ein Foto einfanden. Der Startschuss fiel am nicht weit entfernten Denkmal für die Flugpioniere Wilbur und Orville Wright, die in den nahen Dünen 1903 den ersten Flug eines motorgetriebenen Flugzeugs vollführt hatten. Für die Durchquerung des Kontinents hatten die Organisatoren den Focus auf kleine, zweispurige Straßen gelegt. Die täglich zu bewältigenden Strecken lagen so zwischen 140 und 300 Meilen.
Die Fahrer müssen genügend Werkzeug dabeihaben
Jeden Morgen gab es einen detaillierten Streckenplan. Ob die Teilnehmer allein oder in Gruppen fahren wollten, stand ihnen frei. Die Supportteams durften sie aber nicht unmittelbar begleiten, sondern mussten einen direkten Weg zum Ziel nehmen. Es wurde von den Fahrern erwartet, dass sie sich mit genügend Werkzeug für eine eventuelle Reparatur ausrüsteten. Auch die Hilfe von Konkurrenten durfte angenommen werden. Für den Ernstfall folgten mehrere Pick-ups, die Gestrandete aufsammelten.
An den Tageszielorten konnten dann die nötigen Maßnahmen ergriffen werden, um die Tour fortsetzen zu können. Unter den Aktiven befanden sich einige bekannte Größen der amerikanischen Szene. Neben dem Customizer Shinya Kimura (ehemals das Alter ego von Zero Engineering) waren es noch Chris Simmons, der Bildhauer Jeff Decker, der Herausgeber des American Iron Magazins Buzz Kanter und Oldtimer-Restaurator Steve Huntzinger.
Motorcycle Cannonball – Kleine Straßen, grandiose Landschaften
Selbst aus Deutschland waren Teilnehmer angereist. Katrin Böhner und Dieter Eckel kamen aus Bayern und steuerten eine JAP „Flying Broomstick“ von 1907 und eine BSA von 1913 zum Starterfeld bei. Mit ihren Bikes waren sie schon in ganz Europa unterwegs gewesen und wollten nun an diesem Abenteuer teilhaben. Es sollte sich für die Beiden lohnen, doch dazu später.
Durch das unmittelbare und intensive Erlebnis mit den antiken Bikes erfuhren die Teilnehmer viele prägende Eindrücke. Kleine Straßen führten sie durch grandiose Landschaften, über Berge und durch weite Ebenen. So gab es in den durchquerten Bundestaaten Nord Carolina, Tennessee, Alabama, Mississippi, Arkansas, Oklahoma, Texas, New Mexico, Arizona, Nevada und Kalifornien genügend optische Highlights. Einer der Höhepunkte war die Übernachtung in Dale Walkslers „Wheel Through Time“ Museum.
Siebzehn Tage bis zum Pier von Santa Monica
Drei ziemlich derangierte Teilnehmer-Bikes wurden in der Museums-Werkstatt annähernd komplett zerlegt und nächtens auch wieder aufgebaut. Alle halfen mit. Zwischen den „Kontrahenten“ war in den vergangenen Tagen eine tiefe Freundschaft entstanden. Egal, ob sie sich bereits vorher kannten oder erst auf der Strecke getroffen hatten, man war eine Einheit. Dies war wohl auch die schönste Begleiterscheinung der gesamten Veranstaltung.
Nach siebzehn Tagen wurde das Ziel, der Pier von Santa Monica, erreicht. Außer einem Sturz, bei dem sich ausgerechnet der Youngster Marc den linken Arm brach, wurde niemand bei Unfällen verletzt. Ohne Probleme auf der gesamten Strecke von 3.294 Meilen (= 5.300 Kilometer) erreichten zehn der gestarteten Bikes das Ziel. Gesamtsieger und gleichzeitig Sieger in Klasse 2 wurde Bradford P. Wilmarth.
Der Motorcycle Cannonball findet alle zwei Jahre statt
Seine 1913er Excelsior war das älteste Bike der Ankömmlinge. Der Zweitplatzierte war auf einem 1914er Modell unterwegs. Weitere sieben Teilnehmer schafften die 3000-Meilen-Marke. Klasse 1 gewann die deutsche Teilnehmerin Katrin Böhner auf dem ältesten Bike im Feld, die auch einen ausgezeichneten 17. Platz in der Gesamtwertung einfuhr. In der Klasse 3 erreichten ganze acht Bikes die volle Punktzahl. Da alle Baujahr 1915 waren, ging der Klassensieg an den ältesten Fahrer.
Doch im Grunde waren alle Teilnehmer Sieger. Das Erlebnis, mit ihren alten Bikes diese Strecke bewältigt zu haben, die Erfahrungen unterwegs und die gemeinsam bewältigten Herausforderungen galten mehr als alle Titel und Trophäen. Die Begeisterung sorgte schließlich dafür, dass der Motorcycle Cannonball seither alle zwei Jahre stattfindet. Das nächste Mal im September 2025.
Info | motorcyclecannonball.com