Wer den Blue Ridge Parkway im amerikanischen Osten erkunden will, sollte dies am besten mit einem schweren amerikanischen Eisen tun. Die 755 Kilometer lange Route wurde vor 75 Jahren für den motorisierten Freizeitverkehr gebaut. Belohnt wird der Biker mit einer kurvenreichen, eleganten Straßenführung, Höhenunterschieden von bis zu 2.000 Metern, unberührter Natur und landschaftlich reizvollen Aussichten über die Appalachen.
Shenandoah, Tochter der Sterne, nannten die Shawnee-Indianer das Tal zwischen den amerikanischen Blue Ridge Mountains im Osten und den Allegheny Mountains im Westen North Carolinas. Doch es war der bläuliche Hochnebel, der häufig morgens und abends über den Bergwäldern hängt, der dem Gebirgszug seinen heutigen Namen gab: Blue Ridge. Mitten hindurch führt die gleichnamige Straße.
Blue Ridge Parkway als Arbeitsbeschaffungsmaßnahme
Der Blue Ridge Parkway wurde in den kargen Zeiten der Großen Depression als Arbeitsbeschaffungsmaßnahme in Auftrag gegeben. Im Norden beginnt er am Rockfish Gap in Virginia und schließt dort an den Skyline Drive an, der durch den Shenandoah-Nationalpark führt. 469 Meilen in südlicher Richtung im Gebiet des Great Smoky Mountains National Park und der Indianer-Reservation der Cherokee endet die Straße. Am 11. September 1935 war Baubeginn.

Bill ist Motorrad-Guide bei Bluestrada-Tours und führt Gruppen von Motorradfahrern sicher entlang des südlichen, für den gewerblichen Kraftverkehr komplett gesperrten Parkways. Zum Tale of the Dragon am südwestlichen Ende der Kammstraße etwa. Dorthin pilgern jährlich tausende Biker aus allen Teilen der Welt. „318 teils enge Kurven auf 11 Meilen (20 Kilometer) entlang atemberaubender Natur – wo gibt es das sonst schon?“, fragt Bill.
„Baum der Schande“ mit Hunderten Sturzteilen
Dass im Drachental nicht alle Motorradfahrer ihr Bike auch wirklich beherrschen, davon legt der „Baum der Schande“ in Deals Gap ein beredtes Zeugnis ab. An ihm sind mahnend Hunderte von Sturzteilen verunfallter Zweiräder und ihrer Fahrer aufgehängt. Zerrissene Jacken, Hosen, Schuhe, Tanks, Verkleidungsteile … Wer das korrekte Kurvenfahren mit schweren Motorrädern noch nicht beherrscht, der lernt es spätestens hier. Mit meiner ollen Indian vom Typ Chief Vintage sind schnelle Kurvenfahrten ohnehin nicht möglich.

Metallisches Kratzen und Funkenflug unter mir erinnern mich daran, dass die Bodenfreiheit bei diesem über 300 Kilogramm schweren Tourer durch die weit vorn liegenden Trittbretter stark eingeschränkt ist. Macht nichts, schließlich sind auf dem Parkway ohnehin nur 45 Meilen pro Stunde (etwa 70 km/h) erlaubt. Cruiser-Tempo ist also behördlich verordnet.
Schalldämpfung scheint hier unbekannt zu sein
Wir folgen der Interstate 85 ein Stück westwärts, wechseln dann auf die US Route 221, und bei Rutherfordton biegen wir auf die US 64/74A ab. Meine neuen Biker-Freunde mit ihren Road Glides und Street Glides begleiten mich. Wir rasten an einem kleinen Diner direkt am grünlich schimmernden Lake Lure. Auf der Straße vor dem Restaurant donnern ständig kleine Gruppen von Harleys vorbei, eine Schalldämpfung der Mopeds scheint hier nahezu unbekannt zu sein, teilweise fahren die Bikes völlig offen.

Wir folgen der US 74A bis Asheville und checken im 112 Jahre alten Grove Park Inn-Hotel ein. Satteltaschen abbauen, ins Zimmer wuchten, dann ein (schottisches!) Bier, das in North Carolina gebraut wird. Der grandiose Blick von der Südterasse auf die Blauen Berge wird nur getoppt vom abendlichen Besuch der Kneipe „Fiddlin’ Pig“ in Downtown Asheville. Dort gibt es viel frische Greengrass-Music und typisch amerikanisches Essen.
Blue Ridge Parkway – Stop auf dem Mount Pisgah
Mit meinem Indian-Eisen komme ich gut klar, die Sitzposition ist nahezu perfekt, die Brems-und Kupplungshebel könnten für meinen Geschmack etwas kräftiger ausgeführt sein, und wenn man weiß, dass es der Motor gerne warm mag bevor man losfährt, dann geht sie an der Ampel auch nicht mehr so oft aus. Dafür macht der Powerplus-Motor der Vintage-Chief aber – obschon sie nur 70 PS auf der Brust hat – mit ihren 135 Newtonmetern mächtig Dampf, auch und insbesondere in den unteren Drehzahlen.

Auf dem Blue Ridge Parkway legen wir einen Stop ein auf dem Mount Pisgah, einem 5.721 Fuß (knapp 1.750 Meter) hohen Berg im gleichnamigen Nationalpark. Das Mt. Pisgah Inn, einziger Diner weit und breit, ist mittags hoffnungslos überfüllt. Alle Fenster sind geschlossen. Die Klimaanlage pustet eiskalte Luft ins Restaurant, und das bei einer Außentemperatur von 30 Grad Celsius! Es gibt Burger – und Burger.
Wir verlassen den Blue Ridge Parkway
Auf dem Parkplatz dann das fast alltägliche Spiel: bewundernde Blicke für die Indian, ein Hohelied auf die Lackkombiantion (Kommentar meiner Freundin dazu: sieht aus wie ein Frauen-Bike!) und die obligatorische Frage, wie alt denn die Maschine sei. Ungläubiges Staunen jedesmal, wenn ich versichere, dasd das Bike von 2010 sei. Weiter geht es Richtung Süden durch den Pisgah National Forest und dann nach Westen durch den sehr kurvigen Nantahala National Forest. Hier verlassen wir den Blue Ridge Parkway und fahren ein Stück in Richtung Norden auf der US Road 19 nach Maggie Valley.

Matt Walkster vom Motorradmuseum Wheels throught the Time empfängt uns – mit ölverschmierten Händen, Shorts, einem alten T-Shirt und Latschen an den Füßen: „28 amerikanische Motorradmarken sind hier vertreten, insgesamt sind das 320 Bikes aus den letzten hundert Jahren, darunter viele Raritäten, Unikate und erste Seriennummern, unter anderem von Indian und Harley-Davidson“, erklärt Matt bei einem Rundgang durch die liebevoll arrangierte Ausstellung. In der Luft schwebt der Duft von Benzin, Farbe, Reinigungsmitteln – und ein Hauch von grenzenloser Freiheit. Das beste aber sei, so der passionierte Bastler und Sammler: „Neunundneunzig Prozent aller Maschinen laufen“. Spätestens jetzt wird auch die Bedeutung des Namens der in Maggie Valley ansässigen Sammlung klar: The Museum that rolls!
Cabins und Campgrounds nur für Biker!
Nächster Stop ist bei John und Charlene Powells Iron Horse Motorcycle Lodge – Cabins und Campgrounds nur für Biker. John gründete die Lodge 2003, auf einem waldigen, weiten Grundstück, das von einem gurgelnden Bach durchflossen wird. Für ein einfaches Zimmer in einem Blockhaus mit Doppelbett und Dusche zahlt man inklusive Frühstück und Steuern 100 US-Dollar – das gilt hier schon als preiswert. Sein Zelt darf man für einen Zehner aufbauen. Dennoch ein Geheim-Tipp für Biker auf einem Run entlang des Parkways. Genug Platz zum Ausspannen, Essen, Trinken, Billard spielen, Lesen, TV sehen – und abends völlig relaxed am Lagerfeuer sitzen.

Wieder zurück auf dem „Blue Ridge“, wie die Einheimischen den Parkway nennen, erreichen wir nach einem Abstecher ins Indianer-Reservat der Cherokees in nördlicher Richtung nach einem Halbtages-Ritt die direkt am Parkway liegende, „Diamondback“ genannte Straße nach „Little Switzerland“. Das ist eine mehr als einhundert Jahre alten Siedlung ehemaliger Auswanderer aus der Schweiz. Das Bier bei Marc vom Inn schmeckt prima, die Chicken Wings sind extra spicy und die Zimmer sehr ordentlich. Auch der Diamondback – nach einer giftigen Schlange benannt – zieht jedes Jahr viele Motorradfahrer aus aller Welt an: schlangengleich windet sich die sauber asphaltierte Straße durch dichten, grünen, sonnendurchfluteten Wald.
John Denvers Song „Country Roads“ ist hier entstanden
Auf dem Weg nach Little Switzerland schalte ich an einer der Aussichtsplattformen am Parkway die Maschine aus. Atme tief durch. Und lasse die Weite der tatsächlich bläulich schimmernden, nebelverhangenen Wälder, die teppichgleich die Berglandschaft bedecken, auf mich einwirken. John Denvers Song „Country Roads“ ist hier entstanden. Kein Wunder, dass diese Berge – und ihre Straßen – besungen wurden. Irgendwann geht’s weiter. Zündung ein, Startknopf drücken. Grummelnd erwacht der Langhuber-Big Twin mit seinen 1720 Kubikzentimetern Hubraum zu neuem Leben, schüttelt sich kurz heftig, dann macht es krachend Klack, der erste Gang sitzt. Gas.

Weiter geht es den s-förmig geschwungenen Linn Cove Viaduct am Grand Father Mountain entlang. Meilen machen auf dem Blue Ridge Parkway – dem Pfad, den einst die letzten der hier ansässigen Indianer in Richtung Reservat gehen mussten auf ihrem so genannten Treck der Tränen. Auch das sollte bedenken, wer heute den Komfort des motorisierten Reisens auf diesem Weg genießt, denn vor nicht allzu langer Zeit waren die Blue Ridge Mountains noch reines Indianerland, wovon heute lediglich Namen wie Nantahala, Swannanoa und Shenandoah zeugen.