Sie könnte fast ein Bike aus dem Firmenmuseum in Milwaukee, Abteilung Prototypen, sein. Jordan Dickinson baute eine Knucklehead, die einen genauen Blick dringend notwendig macht.
Anziehend irgendwie. Wirklich schön gemacht, die alte Knucklehead. Doch, zum Teufel, was ist denn …? Der Blick streift nochmal die rechte Kurbelgehäuseseite. Knuckle? Da fehlt doch der angegossene Flanschfortsatz für den Generator, der eigentlich vor dem Motor liegen sollte? Auch am seitlich abschließenden Steuergehäusedeckel, mit den kurzen Versteifungsrippen, ist die typische Verlängerung nach vorne nicht da. Und die Zylinder sehen etwas nach mehr Hubraum aus, ein S&S-Vergaser … ansonsten eindeutig Knuckle!
Doch dann wieder die glänzend polierten Hinterachsaufnahmen und der gleichermaßen hervorstechende Lenkkopf – hey Mann, der Rahmen hat vorne ja nur ein Rahmenrohr. Unter dem Motor mündet es in eine gemuffte Einheit von geschwungenen Verbindungsplatten. Hinten, unter dem Getriebe, münden die Platten selbst wiederum in Anschlussmuffen.
Knucklehead? Ja, aber nicht von Harley-Davidson
Und dann noch die leicht gebogenen, nach hinten führenden, unteren Rahmenrohre? Eindeutig: Das ist keine Serienknuckle! Vielleicht ein Prototyp, eine Versuchsmaschine, ein Erlkönig? Wir verharren ehrfürchtig in der Hocke vor dem Motorrad. Detail um Detail wird durch mentale Scanner gecheckt, nach verwandtschaftlichen Ähnlichkeiten zu anderen Harley-Davidson-Modellen überprüft. Um Licht ins Dunkel zu bringen, fragen wir schließlich Jordan Levi Dickinson, den Besitzer.
Jordan lebt in Monticello im US-Staat Minnesota, wo er den Shop Union Speed & Style betreibt. »Nein, nein, keine Versuchsmaschine. Das ist ein Eigenbau von mir … aber ich habe ihm bewusst diesen Look gegeben.« Eben in der Art, als ob er von Harley-Davidson in den späten zwanziger Jahren als OHV-Renner gebaut worden wäre.
Single-Downtube mit geradem Rohr
Schon bei der Planung hatte er sich von den alten Bikes bis hin in die 50er Jahre des zwanzigsten Jahrhunderts inspirieren lassen. Der Rahmen sollte einen Single-Downtube haben, allerdings mit einem geraden Rohr. Unter dem Triebwerk läuft der Rahmen schließlich im eindeutigen Style der alten VL-Modelle, den Motor harmonisch umfassend.
Diesen Schwung nehmen die unteren Rahmenrohre bis zur Hinterradachse nochmal auf. »Die Basis eines guten Bikes beginnt mit einem guten Rahmen«, hören wir Jordan seine Erklärungen fortführen. »Ich hatte mich entschieden, für den Lenkkopf und die Hinterachsaufnahmen Edelstahl zu verwenden. Das ist etwas, was du niemals an einem serienmäßigen Bike finden wirst!
Mit dem Lenkkopf-Rohling zum geilsten Bike der Welt
Vor gut zehn Jahren hatte ich mir einen gedrehten Lenkkopf-Rohling besorgt, mit dem Gedanken, dass, – wenn es das Universum irgendwann erlauben wird – damit das allergeilste Motorrad aufbauen werde. Quasi der Grundstein eines Bikes, wie ihr es noch nie zu Gesicht gekriegt habt.
Ich hatte das Ding in die oberste Schublade meines Werkzeugschrankes gelegt, so dass ich immer wieder daran erinnert wurde: Eines Tages … ja, eines Tages bist du dran!« Doch in einem Shop, in dem überwiegend Hot-Rods und Bikes für Kunden entstehen, braucht es die besondere Herausforderung, wie die Einladung zu einer Bikeshow, um für sich selbst ein außergewöhnliches Bike zu bauen.
Jordans Spezialität ist die Blechbearbeitung
Mal ist das Geld für sowas da, dann wieder nicht, und immer sind viele andere Aufgaben zu erledigen. Diese Aufgaben reißen eigentlich nie ab, weil Jordan wirklich fast alles im Hause macht. Auf seine Spezialität, die Blechbearbeitung, angesprochen, gibt er zu, ganz tief in die Materie eingetaucht zu sein. Das heißt bei ihm nicht nur Vorhandenes abzuändern, sondern komplett anzufertigen.
Aus einer Tafel Blech ausschneiden, dengeln, einziehen, strecken, glätten … das muss in Fleisch und Blut übergehen wie das Erlernen einer Sprache. »If you want to talk to a pretty French girl then you need to learn to speak French«, so umschreibt der Mann aus dem Mittleren Westen der USA die Notwendigkeit des intensiven Lernens.
Knucklehead-Bobber mit feinen »Body Line Details«
Seine eigene Fähigkeit mit der Schönheit von Blech zu kommunizieren wird deutlich, wenn man den Öltank mit nach außen erhabenen Feldern sieht. Auch die beiden Benzintankhälften, die, wie der Öltank und das hintere Schutzblech, aus flachen Blechtafeln entstanden waren, hatten solche »Body Line Details« erhalten, nachdem die Grundform herausgearbeitet war.
Jordan gefällt die Idee, Teile so aussehen zu lassen, als ob sie ein Designer in früheren Zeiten entworfen hätte, diese es allerdings – denkbar aus Kostengründen – nicht in die Serienproduktion geschafft hatten. So hatte er auch den S&S-Knucklehead-Motor sichtlich modifiziert – sprich: abgesägt, zugeschweißt und geglättet, bis es aussah, als wäre er so ab Werk lieferbar gewesen.
Knucklehead mit Alternator-Lichtmaschine
Die nun fehlende Generator-Lichtmaschine wurde durch ein leistungsfähigeres Alternator-Exemplar einer moderneren Harley ersetzt, das nun – wie heute üblich – in der linken Motorgehäuseseite Platz findet. Die Variante ist bei S&S so bestellbar. Wobei wir bei den technischen Anleihen aus der Neuzeit angelangt wären.
Weiter geht es mit einem versteckt im Öltank sitzenden Luftkissen, das, wenn aufgeblasen, einen ansonsten perfekt den Rahmenlinien angepassten Sitz höher legt und somit eine komfortable Federung ermöglicht. Klar, dass Jordan, den seine Kumpel auch Pineapple-Jay nennen, auch den Sattel selbst fertigte.
Vorne arbeitet eine optisch angeglichene Honda-Halbnabenbremse
Auf der »Union Speed & Style«-Web-Shop-Kollektion finden sich »Off the shelf«-Sattel- und Lenkerkreationen, die sich allesamt an alte Vorbilder anlehnen. Klassisch sollte das Bike zwar aussehen, aber während viele seiner Kollegen beispielsweise auf eine Vorderbremse verzichten und hinten mit Gestänge betätigter Trommel auskommen, vertraut er hinten auf eine hydraulische Trommel und hat vorne wenigstens die optisch angeglichene Halbnabenbremse einer Honda verbaut.
Na ja, funktionieren konnte die Vorderbremse beim Fototermin noch nicht. Es fehlten ja noch der Handhebel und der Bremszug. Und auch beim Gelenkstangenende der Fußkupplung hatte sich eine Schraube verflüchtigt. So spielt das Leben. Das Bike war für eine wichtige Ausstellung versprochen und wurde auf den allerletzten Drücker mit Hilfe von Brüdern und Freunden vorzeigefertig zusammengesteckt.
Der Retro-Erlkönig
Wer jemals auf eine Deadline für ein solches Eigenbauprojekt hingearbeitet hat, weiß, du kannst eine ganze Kleinstadt als Helfer brauchen. Die kleinen Mängel, die sind längst behoben. Auch Josh, einer von Jordans Brüdern, hatte kräftig mitgeholfen, war sogar finanziell massiv in das Projekt eingestiegen. Und genau dieser Josh hat nun beim Fahren das breiteste Grinsen im Gesicht. Ein Bike wie seinen Retro-Erlkönig gibt’s in der Gegend um die Twin Cities kein zweites Mal.
Info | unionspeedandstyle.com