War die Harley-Davidson XLRT ein geheimer Prototyp der Company oder ein cleveres Customprojekt von Arlen Ness?
Mit der Eröffnung des Werksmuseums in Milwaukee öffnete sich auch der Vorhang vor einigen Geheimprojekten der Company. Motorräder und Prototypen, über die nur Harley-Insider Bescheid wussten und welche nur wenige auserwählte Besucher der unter Verschluss gehaltenen Motorrad-Sammlung je gesehen haben.
Harley-Davidson XLRT – Prototyp oder Ness Custom?
So ist der moderne OHC 1100 Twin von 1975, obwohl nicht im Museum ausgestellt, im reichhaltig bebilderten Museumsbuch veröffentlicht. Und auch das lange verschwiegene NOVA Projekt – eine komplette Motorrad-Generation mit V-2, V-4 und V-6 Motoren, die in Zusammenarbeit mit Porsche entwickelt wurde – kann man seither besichtigen. Sind damit alle Harley-Geheimnisse auf dem Tisch? Mitnichten! Gegenwärtig wird nicht mal die Hälfte des Bike-Archives im Museum präsentiert. Der Rest wird in Lagergestellen in einem anderen Gebäude aufbewahrt. Und es gibt noch immer einige Projekte, über die Harley-Davidson lieber schweigt. Ist die XLRT eins davon?

Betrachtet man die Geschichte der Custombikes – und jene Persönlichkeiten, welche diese Szene am meisten beeinflusst haben – dann stehen zwei Namen mit weitem Abstand vorne auf der Liste: Willie G. Davidson, der mittlerweile im Ruhestand ist, und der 2019 verstorbene Arlen Ness. Während Arlen Ness der unangefochtene Meister der extremen, handgefertigten Custombikes war, verdiente sich auch Willie G. diesen Ruhm: Seine Design-Arbeiten für Harley-Davidson erstreckten sich über ein halbes Jahrhundert – und er hat das heutige Image von Harley-Davidson entscheidend mitgeprägt.
Custombike-Klassiker von Willie G. Davidson
Viele seiner Entwürfe wie die Boattail „Super Glide“, die XLCR „Cafe Racer“ und die FXST „Softail“ sind trotz Serienfertigung Custombike-Klassiker. Die von den einzelnen Modelllinien abgeleiteten Modelle sind eigentlich auch „Custom“-Versionen in immer neuen Varianten. Ein geniales Konzept, das die Modellpalette frisch hält.

Beide Männer lebten und liebten ihre Arbeit. Und beide verband die Eigenschaft, dass sie damit nicht aufhören konnten. Arlen Ness fand man eher im Schweißraum seines riesigen Shops in Dublin/Kalifornien, als im Büro. Und Willie G. den Skizzenblock wegzunehmen, ist auch heute noch schlichtweg unmöglich.
Überwältigt von so viel glänzendem Chrom und Lack
Besucht man das nördliche Kalifornien, insbesondere die Bay Area um San Francisco, braucht man kein Custombike-Fan zu sein, um einen Stop in Dublin zu machen. In den Hügeln über der San Francisco Bay kreuzen sich zwei Interstates – und Arlens Shop ist leicht zu finden. Über dem Showroom, wo neben den Ness Motorcycles und einigen anderen Marken natürlich die Parts & Accessories zu haben sind, liegt die private Sammlung von Arlen Ness.

Ein Querschnitt seiner Arbeiten, ein Bike spektakulärer als das andere: Die zweimotorige „Two Bad“, das „Ferrari Bike“, Hulk Hoogans „Hulkster“, „Ness-Talgia“ mit ihrem 57er Chevy-Look und mehr als 50 außergewöhnliche Unikate, welche in Motorradmagazinen in aller Welt veröffentlicht wurden. Überwältigt von so viel glänzendem Chrom und Lack, fällt es leicht, die weniger glitzernden, aber nicht weniger interessanten Bikes schlichtweg zu übersehen – wie zum Beispiel die XLRT. Zumal dieses Motorrad auf den ersten Blick aussieht wie eine Serienmaschine mit ein paar wenigen Ness-Teilen dran. Wie sehr so ein erster Eindruck täuschen kann …
Die Sport Glide erregte damals keine große Aufmerksamkeit
Ein Blick zurück: Mit dem Modelljahr 1984 stellte Harley-Davidson die FXRT „Sport Glide“ vor. Basierend auf dem Rahmen der FX-Reihe, bei denen Motor, Getriebe und Schwinge in Gummi gelagert sind, sollte die Maschine den europäischen und japanischen Sport-Tourern wie der BMW R 100 RT (von der augenscheinlich die Abkürzung RT „ausgeliehen“ wurde), der Yamaha Venture und der Honda Gold Wing Konkurrenz machen.

Obwohl das neue Modell eine Überraschung war – Harley hatte mit seiner Electra Glide und der Tour Glide bereits mehrere Tourer im Programm – erregte die FXRT keine große Aufmerksamkeit: Es war schließlich das Jahr, in dem der Evolution-Motor den Shovelhead ablöste und der Softail-Rahmen vorgestellt wurde! Die seltsame Verkleidung, die irgendwie fehl am Platz wirkte, wurde selten hinterfragt. Obwohl beide genau dies waren: Fehl am Platz!
Harley-Davidson XLRT mit Sport Glide-Verkleidung
Es sind mehrere Ansatzpunkte, die an der FXRT-Verkleidung seltsam anmuten – daran konnte auch das Pinstriping nichts ändern. Zwei Lüftungskanäle, aerodynamisch ausgerichtet wie bei einem Flugzeug, führten ins Nichts. Eine aerodynamische Sackgasse. War diese Verkleidung überhaupt für einen luftgekühlten Evo- oder Shovelhead-Twin konzipiert? Was weder der Presse noch den Kunden je gesagt wurde: Eigentlich kam die Verkleidung von einem völlig anderen Motorrad, für welche sie eigentlich entwickelt wurde: Dem Projekt NOVA.

Wie weit Harley-Davidson die Vorbereitung zur Fertigung der NOVA tatsächlich betrieben hat, wird vielleicht niemals das Licht der Öffentlichkeit erblicken. Auch Porsche-Engineering – welche das Konzept zusammen mit Harley entwickelten – hüllt sich auch heute noch – nach mehr als 40 Jahren – in Schweigen. Die Entwicklung der NOVA begann noch zu AMF-Zeiten, mit den entsprechenden Finanzmitteln des riesigen Mischkonzerns. Heute steht eine der NOVA-Designstudien im Harley-Davidson Museum, zusammen mit Motorenmodellen im Maßstab 1:1.
Produktionsvorbereitungen für die Großserienfertigung
Wenn aber dies nur Studien waren, warum gab es dann schon die Werkzeuge für Verkleidung und Packtaschen? Es gab also schon Produktionsvorbereitungen für die Großserienfertigung, als das Projekt gestoppt wurde – kurz nachdem Harley am 26. Februar 1981 wieder privatisiert wurde.

Die NOVA war ihrer Zeit ziemlich voraus, sollten doch die besagten Luftkanäle nicht nur die Airbox unter den Tank füttern. Kühlluft wurde am wassergekühlten Triebwerk vorbei durch einen im Heck platzierten Kühler geblasen, unterstützt von einem im Heckteil platzierten Ventilator. Der „zieht“ die warme Luft aus dem Motor. Der Tank war nur ein Dummy, unter dem sich Elektrik, Einspritzung und Airbox verbergen, während das Benzin unter der Sitzbank verstaut wurde. Wie später bei der V-Rod.
Die FXRT wurde bis in die 90er Jahre in geringen Stückzahlen gefertigt
Die NOVA gelangte nie in Serie. Doch ihre Verkleidung war verfügbar, also benutzte man sie, um den neuen Tourer auf FX-Basis zu entwickeln. Diese FXRT wurde bis in die 90er Jahre in geringen Stückzahlen gefertigt. 1992 klang die Modellreihe aus. Doch die Verkleidung kam auch in anderer Funktion zu Ehren: Die FXRP Version (das „P“ steht für „Police“) war lange Jahre das Dienstkrad der Highway-Patrols und Motorrad-Cops der USA. In dieser Variante wurden in den Kühlluftkanälen die Blaulichter montiert. Die Innenverkleidungen beherbergten zusätzliche Polizei-Elektronik.

Harley-Davidson hatte schon immer ein scharfes Auge auf den Zubehörmarkt. Und auf neue Produkte, mit denen man ihre Serienprodukte umstylen oder technisch verbessern konnte. Die Harley-Entwickler lesen sehr aufmerksam die relevanten Fachzeitschriften, besuchen Messen und Bikeshows. Nicht umsonst werden die eigenen Harley-Davidson Ride-In Bikeshows von Spezialisten juriert, die ein Auge darauf haben, wo die Trends hingehen und welche Ideen innovativ sind.
Manchmal kaufen die Entwickler Teile und testen sie heimlich
Nicht zuletzt hat Harley-Davidson ein weltweites Dealer-Netzwerk, welches die Aftermarket-Teile nutzt und verbaut. Und manchmal kaufen die Entwickler Teile einfach und testen sie heimlich. Man muss nicht erst auf Modelle wie Sportster 48, Cross Bones oder Sport Glide schauen, um zu wissen, dass Harley-Davidson den Geschmack seiner Kunden ganz genau beobachtet! Ganz zu schweigen von der Vorliebe für matte Farbtöne und die Farbe Schwarz …

Gleiches traf auch auf Arlen Ness zu. Allerdings mit der Ausnahme, dass Arlen mehr Freiheit besaß, um einzigartige Custombikes zu bauen, von denen es jeweils nur ein oder zwei Parts in die Aftermarket-Kataloge schafften. Aber die verkauften sich dann in großen Stückzahlen.
Harley-Davidson XLRT – Die erste Rubbermount-Sportster
„Ja, meine XLRT ist ein ganz besonderes Bike. Es gibt nur wenige Besucher, die erkennen, was sie da sehen,“ so Arlen bei unserem Besuch vor einigen Jahren. Die 1957 vorgestellte Ironhead-Sportster hat im Laufe der Zeit ihr Aussehen oft verändert – und war die Basis für einige interessante Studien. So baute der Deutsche Hans A. Muth im Auftrag von Harley Deutschland eine Designstudie, die schon bei ihrer Vorstellung den Spritznamen „Katana Sportster” bekam. Die Ähnlichkeit zu Muths gewagtem Suzuki-Design war zu offensichtlich.

Arlens XLRT war die erste „Rubbermount“-Sportster, verwirklicht zwei Jahrzehnte, bevor Harley die Idee in die Serie einfließen ließ. Das Fahrwerk scheint von der „Café Racer“ abgeleitet, ist aber tatsächlich ein serienmäßiger FXRT-Rahmen, in den der Sportster-Motor perfekt eingepasst wurde. Hierfür wurde der Hinterrad-Antrieb von Riemen auf Kette umgestellt und von der linken auf die rechte Motorseite verlegt, nicht zu vergessen die ungewohnte Gummilagerung des Sportster-Treibsatzes samt Auspuffanlage.
Harley-Davidson XLRT? Eher eine Ness XLRT
Es gibt noch einige wenige andere Arlen Ness-Teile an dem Bike, die sich aber unauffällig in die Serienoptik einfügen: Trittbretter, Bremsanlage und Schaltung, Lenker und Armaturen, sowie die Jay Brake Vierkolben-Bremszangen. Der Rest ist „Made in Milwaukee“, was die Maschine nur noch mysteriöser macht. Auch Arlen Ness hatte seine Geheimnisse – aber eins macht dieses Bike deutlich: Er hätte auch als Designer für Harley-Davidson einen erstklassigen Job gemacht!
Info | arlenness.com