Customizing kann man im wörtlichen Sinn auf die Spitze treiben. Dafür muss nur die Sissybar lang genug sein. Wie an dieser Heritage Softail …

Am Anfang war die Sissybar. Hoch hinaus in den Himmel ragend, handgefertigt und geschweißt aus Edelstahl von einem Künstler, der sich hinter den geheimnisvollen Buchstaben „J.W.“ verbirgt. Fehlt nur noch das Custombike drumherum, meinte Mick aus Köln, klemmte sich den Hänger an den Truck und rollte mal eben 600 Kilometer nach München, weil dort eine Evolution mit wenig Kilometern stand, die nur auf ihre Verwandlung zu warten schien.

Cow Glide – „Sweady, diese Kuh wird nicht geschlachtet“

Als er wieder daheim in Köln den Hänger öffnete und sie seinem Kumpel Martini zeigte, fuhr dem der Schreck in die Glieder: Mick hatte eine Rarität aufgetrieben, eine FLSTN Softail Heritage Nostalgia von 1993, wegen ihres rustikalen Designs und der fellbesetzten Satteltaschen umgangssprachlich bekannt als „Cow Glide“.

Die Sissybar ist oldschoolig an der Radachse befestigt. Der Primärkasten bleibt ­geschlossen. Mick hat schon drei Harleys mit offenem Belt

„Sweady, diese Kuh wird nicht geschlachtet“, musste Mick seiner Freundin da noch kurz erklären und besorgte sich für sein Custom-Projekt irgendwo anders einfach noch ’ne Heritage. Die Cow Glide blieb unangetastet und wird nun einfach nur liebgehabt.

Heritage Softail mit Duo-Glide-Tank

So viel zur Erhaltung von Kulturgut. Jetzt aber zum Projekt. Es sollte sich einer handgefertigten Sissybar würdig erweisen. Die größte Herausforderung war sicher die Fummelei am Tank, ein altes Duo-Glide-Behältnis, nun mit persönlichem Signet auf dem Deckel und vor allem mit eingelassenem Tacho im Tankrücken.

Statt eines Tigers steckt ein Tacho im Tank. Den kann man wenigstens sehen, denn der Tiger blieb ein leeres Versprechen. Niemand hat ihn jemals in echt gesehen!

Nicht weniger fummelig dürfte es gewesen sein, den Vergaser abzustimmen. Der Roland-Sands-Luftfilter ist nahezu offen, und das ist nicht ideal für die Gemischaufbereitung. Unter Volllast kackte der Motor ab. Mick behalf sich mit größeren Düsen und hat nun ein sauber ansprechendes Triebwerk.

Die BSL-Tüten liefern Klang statt Radau

Gleichermaßen anspruchsvoll ist die hübsche Auspuffanlage. Die BSL-Tüten sind ordnungsgemäß mit 30 Zentimeter langen Dämpfern ausgestattet, aber wegen ihres schmalen Durchmessers weisen sie kaum einen Resonanzkörper auf. Das nimmt die fürs Ohr angenehmen Tiefen, und nach ungeschickter Abstimmung können solche Tüten schon mal hochfrequenten Radau machen, der einfach nur weh tut. Die Klangprobe in diesem Fall fiel positiv aus. Es war auch nicht zu laut, denn der gestandene Mick kann gelassen bekennen, dass er Radau nicht mehr braucht: „Aus dem Alter bin ich raus.“

Die Hot-Shot-Pipes von BSL klingen so gut, wie sie aussehen. Mit sauberer Abstimmung geht das auch ohne großvolumigen Resonanzkörper

Was wir bezweifeln wollten, war die Wirksamkeit der Bremsanlage von W&W. Nur eine Scheibe und ein Kolben vorne? Wenn das mal gut geht. Mick aber gibt sich vom Fahr- und Bremsverhalten überzeugt. Das Bike würde gut bremsen, und vor allem habbe es mit der um vier Zoll gekürzten Springergabel auch ein ausgesprochen gutes Handling: „Die kannste freihändig fahren, und mit’m Arsch lenken!“

Das Problem nach hinten abfallender Sitzflächen

Apropos Arsch: Die Reling am Sattel ist ein Bekenntnis. Mick kennt das Problem nach hinten abfallender Sitzflächen, wenn dahinter ein mitschwingendes Heck vibriert. Er hat das auch schon bei seiner „Rocker“ elegant gelöst, denn die hatte zwar ab Werk ein mitschwingendes Heck, nur hatte die Company die Sattelpositionierung nicht elegant gelöst. Die Lösung mit einer eigenen Reling gleicht also einer Flucht nach vorn, abrutschen nach hinten gibt’s nicht mehr. Überhaupt ist die Reling auch abnehmbar.

Der Roland-Sands-Luftfilter ist fast offen. Zusammen mit dem S&S-Super-E-Vergaser erfordert das eine gewissenhafte Bedüsung

Ebenfalls ein Bekenntnis ist der geschlossene Kettenkasten. Nachdem wir das Bike erst nur von der rechten Seite gesehen hatten, erwarteten wir dringend einen offenen Belt auf der linken Seite. Mick winkte ab: „Ich hab schon drei Harleys mit offenem Belt. Ich brauch keine vierte!“

Die Felgen dieser Heritage Softail haben 100 Speichen

Das ist beruhigend, wenn man es mit so viel Gelassenheit sehen kann. Mick hat nicht mal die Speichen seiner Genscher-Felgen gezählt. Das mussten wir für ihn erledigen, denn das Bike trägt doch wohl nicht zufällig den Namen „Hot Wheels“. Vorne also sind es 48, hinten 52 Speichen. Viel Spaß beim Putzen, das nämlich erledigen wir nicht für andere!